Wenn ein Leid über zehn Jahre lang nichts bewirkt, dann war es ein nutzloses Leid Von: Dr. Yavuz Özoguz
Imam Chamene’i sagt in seinem zweiten Brief an die Jugend im Westen: „Aber das Leid von heute muss zum Aufbau eines besseren und sichereren morgen führen. Ansonsten wird es nur eine bittere und nutzlose Erinnerung bleiben. Ich bin davon überzeugt, dass nur Ihr jungen Leute imstande sein werdet, aus den Wirren von heute neue Lösungen für die Gestaltung der Zukunft zu finden und Irrwege zu blockieren, die den Westen in die jetzige Lage versetzt haben.“[1]
Meine Wenigkeit war zwar auch vor zehn Jahren nicht jung, aber vor über 10 Jahren habe ich einen Text verfasst, der damals unter dem Titel „Lasst uns unsere Schuhe ausziehen um den Hass zu besiegen!“ [2] erst im Internet und später in einem Buch veröffentlich worden ist. Ein Blick in den Text verdeutlicht, dass sich seither offenbar NICHTS verändert hat. Man kann den damaligen Anschlag in London einfach auswechseln und ergänzen mit den jüngsten Anschlägen in Paris und schon ist der Text so neu wie damals. Doch wenn ein über 10 Jahre alter Text so neu wie damals ist, dann verdeutlicht das, dass die Schreibergeneration nichts bewirkt hat. Der Grund dafür könnte darin liegen, dass wir die Heiligkeit unserer Zeit viel zu sehr „zurückhaltend“ vorgestellt haben, weil wir Angst hatten, dass viele uns ablehnen würden. Aber Imam Chamene’i schreibt an die Jugend im Westen nach dem ersten Brief [3] nunmehr so ausführlich und inhaltsreich ohne jegliche Scheu einen zweiten Brief. Wovor haben wir also Angst? Mögen es die heute jungen Menschen besser machen – so Gott will. Meine Wenigkeit versucht es mit einem alten Text, den ich mit wenigen Änderungen aktualisiere.
Lasst uns unsere Schuhe ausziehen um den Hass zu besiegen!
Ein altes indisches Sprichwort besagt, dass man sein Gegenüber erst dann verstehen kann, wenn man eine Weile in seinen Sandalen gelaufen ist. In unterschiedlichen Variationen gibt es jenes Sprichwort in fast allen Kulturen und ist inhaltlich Bestandteil moderner Konfliktpräventionsstrategien. Nur, was nützt alle Theorie, wenn wir nicht bereit sind zumindest für eine Weile die Schuhe des vermeintlichen Feindes anzuziehen, um ihn besser zu verstehen?
New York, Madrid, London, jetzt Paris und morgen irgendeine andere Stadt mit großer Symbolkraft in der westlichen Welt sind hier jedem „Westler“ bekannt. Aber weiß er auch, dass sein gegenüber an Deir Yassin, Balbek, Choramschahr, Halabdscha, Falludscha, Abu Ghraib, Maalula, Guantanamo und sehr viele andere Orte mit noch viel größerer Symbolkraft denkt? Wahrscheinlich kennt er einige der Orte nicht einmal.
Der Träger von Schuhen der westlichen Welt macht den Islam als Ganzes für die Terrorakte in „seiner“ Welt verantwortlich. Die Diplomatischen unter ihnen differenzieren zwar noch manchmal zwischen einem „Islamismus“, dessen Definition niemand so genau kennt, und „dem Islam“, aber eigentlich meinen sie doch jeden halbwegs sich zu seinem Glauben bekennenden Muslim. Ist nicht der Islam eine kriegerische Religion? Werden im Islam nicht die Frauen unterdrückt, kleine Mädchen brutal beschnitten, Kinder mehr mit der Ohrfeige als mit dem Buch gelehrt? Ist der Islam nicht der Inbegriff für Steinigung, Handabhacken, Ehrenmorde, Kopfabhacken, Hasspredigten und massiven Freiheitseinschränkungen? Sind nicht Muslime die sozial und materiell rückschrittlichsten Menschen dieser Welt? Die Liste der Vorwürfe ließe sich wohl unbegrenzt fortsetzen, und am Ende landet man dann bei den Terroranschlägen in Paris. Sind nicht Terroranschläge die unausweichliche Folge einer derart abartigen und unmenschlichen Religion?
Aber Paris birgt für den Träger von westlichen Schuhen auch eine große Chance. An kaum einem anderen Ort Europas gibt es so viele Muslime neben Nichtmuslimen und so viele Kulturen mit einer gemeinsamen Sprache. An kaum einem anderen Ort Europas hat der Träger der westlichen Schuhe eher die Gelegenheit, einmal in die Schuhe seines muslimischen Gegenübers zu schlüpfen! Und plötzlich sieht die Welt ganz anders aus, aber immer noch erschreckend wie vorher, nur mit anderen Vorzeichen.
Der Träger von muslimischen Schuhen macht „den Westen“ als Ganzen für die Terrorakte in „seiner“ Welt verantwortlich. Die Diplomatischen unter ihnen differenzieren zwar noch zwischen echter und nur in der Theorie existierender „Demokratie und Freiheit“ (an dessen Existenz niemand glaubt) und „dem Westen“, aber eigentlich meinen sie doch jeden sich halbwegs zu „Freiheit und Demokratie“ bekennenden Westler. Ist nicht „Demokratie und Freiheit“ eine kriegerische Ideologie? Werden im Westen nicht die Frauen ausgebeutet, kleine Mädchen an Pornoringe verscherbelt, Kinder mehr mit Sexismus als mit dem Buch gelehrt? Ist der Westen nicht der Inbegriff für Abtreibung, Drogenkonsums, Raubtierkapitalismus, Wachstumswahn, vor allem beim Waffenexport, Morallosigkeit und massiven Freiheitseinschränkungen für Muslime? Sind nicht Westler die familiär und spirituell rückschrittlichsten Menschen dieser Welt? Die Liste der Vorwürfe ließe sich wohl unbegrenzt fortsetzen, und am Ende landet man dann in Syrien oder Gaza. Sind nicht die Besatzung Syriens und zuvor des Irak und Libyens und anderer Orte unausweichliche Folge einer derart abartigen und unmenschlichen Ideologie? Auch in diesen Schuhen steuert alles auf eine Konfrontation zu. Doch wenn man diese Schuhe schon einmal an hat, kann man ja einmal tiefer nachfragen, wie ist es mit den Terroranschlägen in Paris ist? Wie stehen die Muslime dazu?
Klar, inzwischen gibt es nicht eine halbwegs bekannt Organisation, die sich nicht davon distanziert hätte, und das in aller Deutlichkeit! Fast reflexartig hatten sich die meisten schon distanziert, noch bevor sie dieses Mal dazu aufgefordert wurden. Aber gibt das wirklich die Gemütslage wieder, welche die einfachen Träger dieser Schuhe hat? Sind nicht einige Füße darunter, die sich insgeheim teilweise auch gefreut haben, dass endlich auch einmal die Franzosen (und zuvor Engländer) eins übergebraten bekommen haben? Wie viele seiner Schwestern und Brüder, Mütter und Väter, Töchter und Söhne sind schon Opfer französischer und britischer Imperialgelüste geworden, und wie viele unzählige Familien leiden und trauern aufgrund imperialistischen Terrors schon seit Jahren? Ist es da nicht nur rechtens, wenn auch einige westliche Familien leiden? Klar, er wird das jetzt nicht sagen, weder in der westlichen Welt, wo man ihn dafür verbal verprügeln würde, noch in der islamischen Welt, wo ihn die großen Gelehrten aller Rechtsschulen verdammen würden für so viel unislamisches Gedankengut (bis auf eine von den Briten erschaffene und von den USA geschützte und gestützte Richtung), aber sein Hass sitzt so tief, dass er eine gewisse Schadenfreude zumindest sich selbst gegenüber nicht verhehlen kann. Sollen doch die echten Gelehrten denken und predigen, was sie wollen; Hass kennt keine Vernunft und folgt nicht der Rechtleitung. Hass verdunkelt vor allem zuerst das eigene Herz.
Diese Schuhe sind nicht zu ertragen, ziehen wir sie schnell aus und schlüpfen wieder in die westlichen Schuhe. Puh, jetzt sind wir wieder frei! Diese hasserfüllten Leute haben es nicht besser verdient. Klar ist es nicht gut, dass wir jetzt einige von ihnen insbesondere die Schwachen und Flüchtlinge in Westen verprügeln wollen, aber ein wenig Angst täte denen doch ganz gut. Und sicher sind wir nicht dafür, dass arme Frauen und Kinder bei Bombenangriffen getötet werden, aber haben die nicht irgendwie auch mit dem Islam zu tun und muss man das nicht in Kauf nehmen im Kampf gegen den Terror? Und sind nicht schließlich wir die Guten und sie die Bösen? Muss man nicht unterscheiden zwischen dem versehentlichen Töten durch einen Guten gegenüber dem absichtlichen Morden durch einen Bösen?
Und der Träger jener Schuhe, ob der einen oder der anderen Sorte, merkt nicht, dass er nur ein kleiner unbedeutender Statist ist, der seine Rolle allerdings meisterhaft spielt; ein Statist der großen Inszenierung namens „Clash of Cultures“. Und Millionen von Statisten spielen das Spiel mit. Es ist wie im richtigen Theater, der Statist bekommt einen Hungerlohn und der Regisseur und der Drehbuchautor werden berühmt und kassieren das Geld. Weder die Pariser Schuhträger noch diejenigen in Syrien oder Gaza haben etwas anderes bekommen, als den Hungerlohn der Angst. Und den tragen sie mit sich, teilweise ein Leben lang. Er beherrscht ihr Denken und Handeln und nährt den Hass in ihrem Herzen gegen diejenigen, die in ihren Augen die Ursache für ihre Angst sind. Und die Angst versperrt den Blick auf die eigentliche Inszenierung. Man kennt weder den Regisseur noch den Drehbuchautor. Jener Einzelne weiß nicht, wer davon profitiert, dass er Angst hat und hasst, und er merkt auch nicht, dass sein Gegenüber in der gleichen Lage ist, und es interessiert ihn auch nicht!
Als der große Prophet Moses nach langer Suche und einem mühsamen und sehr beschwerlichen Aufstieg auf einen Berg, angezogen von der Fackel Gottes zum brennenden und dennoch nicht verbrennenden Dornenbusch gelangte, bekam er den Befehl seine Schuhe auszuziehen, denn er betrat heilige Erde. Er betrat den Boden der wahren Liebe in Freiheit und der Verkündigung von Liebe in Freiheit, erleuchtet von der Glut der wunderbarsten Sehnsüchte. Er betrat den Boden, in dem die Niederwerfung vor den einzigen Schöpfer die Faszination und Liebe zu Ihm und seine Schöpfung aufleben ließ! Aber um diese Liebe deutlich spüren zu können, musste er seine Schuhe ausziehen! Nicht das, was die Schuhe gesehen hatten, nicht die Orte, an die jene Schuhe uns schon getragen hatten, waren der Maßstab, sondern die Ehrfurcht und Liebe zu Gott und Seiner Schöpfung! Nur wer die belastenden Schuhe der Vergangenheit abstreift, kann reinen Herzens in die Zukunft sehen und liebe Empfangen und weitergeben!
Wir müssen die Schuhe, die uns zu Sklaven einer uns aufgezwungen Rolle machen wollen, abstreifen! Wir müssen ausbrechen aus dem Teufelskreis der von Verbrechern detailliert durchdachten Inszenierung, denn das Drehbuch hat kein gutes Ende, für keinen von uns! Wir müssen den uns vom Schöpfer für eine Zeit anvertrauten Geist befragen, unseren Verstand mehr als je zuvor anstrengen und die Phantasie bemühen, um Wege aus der Sackgasse zu finden!
Blumen vor der Botschaft Frankreichs, niedergelegt von Muslimen, sind ein Symbol mit großem Wert. Distanzierungen, Verurteilungen, Demonstrationen unterschiedlichster Art für Frieden und gegen Terror oder Besatzung von allen Seiten sind hilfreich. Aber all das ist wie wir inzwischen sehen nicht genug! Es hat in der muslimischen Welt genau so häufig Demonstrationen gegen Terror gegeben, wie in der westlichen Welt gegen Besatzung, auch wenn von beiden Ereignissen vergleichsweise wenig berichtet wurde und beide Seiten einander wenig wahrnahmen.
Um den unaufhaltsam erscheinenden Fahrplan des „Clash of Cultures“ zu durchbrechen bedarf es einer inneren Revolution! Es bedarf einer Revolution der bestehenden Kultur auf allen Seiten, aber vor allem in unseren Herzen. Wir müssen unsere Herzen befreien von den automatischen Hass, zu dem wir getrieben werden sollen. Wir müssen unsere Herzen davor befreien, Hass gegen jene zu spüren, gegen die man uns aufhetzten will, hüben wie drüben! Gehen wir aufeinander zu und reden wir miteinander, mehr noch als zuvor!
Ziehen wir also unsere so belastenden Schuhe aus und schreiten Hand in Hand als Barfüßige. Jesus lehrt auch die andere Wange hinzuhalten. Das bedarf enormer Anstrengungen im Herzen! Mohammed lehrt sich nicht durch die eigene widerspenstige Seele unterdrücken zu lassen. Das bedarf enormer Anstrengungen im Herzen. Halten wir also die andere Wange hin und entwaffnen wir dadurch diejenigen, die uns mit Waffen aufeinander jagen wollen! Bekämpfen wir Hand in Hand diejenigen, die die Schwächen unserer Seele ausbeuten wollen, um den Geist Gottes nicht in uns wirken zu lassen.
Der Islam lehrt: Blut ist mächtiger als das Schwert. Die Hassprediger und bewussten wie unbewussten Diener des „Clash“ haben daraus das Blut der Feinde und das eigene Schwert gemacht. Aber es ist das eigene Blut, das mächtiger ist, als jedes menschenverachtende gegnerische Schwert, jede Bombe, jeder Terroranschlag, und das war auch die Lehre Jesu! Wehrhaftigkeit spiegelt sich darin wieder, dass wir ertragen können, aufrichtig, standhaft, aber ohne Hass, ohne Feindschaft, durchdrungen von der Liebe zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Das ist wahrer Widerstand gegen Unterdrückung.
Die Bomben von Gaza und Paris wollen uns gegeneinander jagen mit den Stiefeln des Hasses. Die Bombenleger von Paris hassen alle Menschen wie die Bombenregenbefehlshaber von Gaza. Sie unterscheiden nicht zwischen West und Ost, zwischen Muslim und Christ (statistisch gibt es viel mehr muslimische Terroropfer in der Welt, auch wenn das nicht kommuniziert wird). Sie wollen nur Hass verbreiten!
Aber Liebe ist stärker als Hass, und wenn es Einzelnen von uns gelingt, diese Liebe im eigenen Herzen wachsen zu lassen, können diese Einzelnen ganze Armeen und ganze weltweit agierende Terror verbreitende Organisationen überwinden und sogar besiegen.
Das Ziel des „Clash of Cultures“ ist, dass Christen ihre wahrhaftige Christlichkeit genau so verlieren, wie Muslime ihren Islam und alle zusammen ihre ihnen angeborene menschliche Natur und damit Menschlichkeit. Christen sollen im missbrauchten Namen des Kreuzes und Muslime im missbrauchten Namen des Dschihads aufeinender losschlagen! Dabei lehrt das Kreuz die Selbstaufopferung und der große Dschihad den Kampf gegen das Böse im eigenen Herzen!
Lassen wir nicht zu, dass wir aufeinender gejagt werden und stellen wir uns dem entgegen, barfuß aber mit Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und einer unerschütterlichen Liebe.
source : irib