
Aus den Ghaselen des Mewlana Dschelaleddin Rumi

Friedrich Rückert
Meiner Seele Morgenlicht, sei nicht fern, o sei nicht fern! Meiner Liebe Traumgesicht, sei nicht fern, o sei nicht fern! Leben ist, wohin du blickst, Tod, wo du dich wendest ab; Hier, wo Tod mit Leben ficht, sei nicht fern, o sei nicht fern!
Ich bin Ost, in dem du auf-,
West, in dem du untergehst;
Licht, das meine Farben bricht,
sei nicht fern, o sei nicht fern!
Ich, dein Bettler, bin der Fürst, dein Gefangner,
ich bin frei,
Meine Lust ist meine Pflicht;
sei nicht fern, o sei nicht fern!
Sieh, wie mich der Turban schmückt,
mich der Parsengürtel ziert,
Wie mich Kutt' und Strick umflicht;
sei nicht fern, o sei nicht fern!
Feuerdiener und Brahman',
Christ und Muselman bin ich,
Du bist meine Zuversicht,
sei nicht fern, o sei nicht fern!
In Pagoden, in Moscheen,
und in Kirchen, mein Altar
Ist allein dein Angesicht;
sei nicht fern, o sei nicht fern!
Ew'ger Mittelpunkt der Welt,
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mit Gebet umkreis' ich dich; Weich' aus deinem Kreise nicht, sei nicht fern, o sei nicht fern! Weltgericht und Seligkeit, Seligkeit ist, wo du nahst, Wo du weggehst, Weltgericht; sei nicht fern, o sei nicht fern!
O Weltrose, dich hervorbringen wollend, sieh, wie rings
Aus Herzknospen Sehnsucht bricht;
sei nicht fern, o sei nicht fern!
Hör', wie gellend in der Nacht, Rose, jede Nachtigall
Laut aus meiner Seele spricht:
Sei nicht fern, o sei nicht fern!