Eine Religion mit gesellschaftlichem und politischem Engagement
Mit dem Versuch, sich von der kapitalistischen Konsumgesellschaft des Westens loszusagen‘ und mit der Überzeugung, kraft einer — nicht auf Materie und Wirtschaft eingeschränkten, sondern mehrdimensionalen - sozialen Gerechtigkeit der Macht der kommunistischen Doktrin langfristig überlegen zu sein, hat sich der Islam seit einigen Jahren als dritte Alternative auf der Ebene der Weltmacht wieder gemeldet. Die weltbewegende Revolution im Iran hat — als letzter Auslöser — auch diejenigen wachgerufen und zum Mitdenken hingerissen, die den Islam für längst tot erklärt oder sogar als tot gefeiert hatten.
Von Emotionen pro und contra Islam geprägt und von Vorurteilen, Antipathien und Sympathien, aber auch Mißverständnissen getragen, überströmen seit einiger Zeit den Islam betreffende Berichte, Informationen, Stellungnahmen und Auseinandersetzungen durch Medien und Presse die mit Sorge erfüllte Weltöffentlichkeit. Das hieraus entstandene negative Bild dominiert weitaus über das positive. Dies erschwert die von Tag zu Tag immer dringender werdende Verständigung der Völker als Träger verschiedener Religionen und Ideologien untereinander. Hierzu kann allerdings Apologie genauso wenig beitragen wie Polemik. Gegen-seitige Verständigung setzt vielmehr das Verstehen dessen voraus, was der jeweilige überzeugte Partner empfindet; denn maßgebend für ein gegenseitiges Verständnis der Religionen und Ideologien ist das, was in ihren Trägern lebt und auf die Gestaltung ihres Lebens wirkt, nicht das, was ihnen die Gegner oder Außenstehende als Schwäche vorhalten. In diesem Sinne beabsichtigen die folgenden Zeilen, eine Basis für ein besseres Verständnis des Islam zu liefern.
Dr. Abdoldjawad Falaturi, geboren 1926 in Isfahan im Iran, Professor für Islamwissenschaft an der Universität zu Köln. 1954 Abschluß des philosophischen und theologischen Studiums in der islamischen Tradition und Verleihung des Idjtihad-Grades; Fortsetzung des Studiums in der Bundesrepublik Deutschland in den Fächern Philosophie, Psychologie und Vergleichende Religionswissenschaft; 1962 Promotion an der Universität Bonn mit dem Thema" Zur Interpretation der kantischen Ethik im Lichte der Achtung"; 1973 Habilitation an der Universität zu Köln mit dem Thema "Umgestaltung der griechischen Philosophie durch die islamische Denkweise". 1978 Mitbegründer und Leiter der Islamischen Wissenschaftlichen Akademie e.V. als Erweiterung des Faches Islamwissenschaft an der Universität zu Köln.
Allgemeine Voraussetzungen
Der Islam, Hingabe an - einen einzigen Gott, kennzeichnet die von Muham.mad (570—632) verkündete Lehre. Nach muslimischer Überzeugung ist der Koran (offenbart zwischen 6lO und 632) als verbale Inspiration die unantastbare und unveränderbare Manifestation dieser Lehre, des Islam. Als Phänomen aber ist der Islam — nach koranischer Überzeugung — so alt wie die Religionen überhaupt, sofern diese in ihrem Kern die Hingabe an einen Gott gefordert haben: "Die (einzig wahre) Religion bei Gott (immer und überall) ist der Islam (Koran 3/19).
Die Gläubigen bilden die islamische Gemeinschaft, umma, zu der auch die Person Muhammads gehört.
Zusammenfassung
Der Autor skizziert die Grundelemente der islamischen Lehre und die geschichtliche Entwicklung. Er untersucht die Hintergründe und Motive der sich seit Jahrhunderten in der islamischen Welt vollziehenden Bewegungen und der gegenwärtigen Erneuerung islamisch-orientalischer Wertsysteme. Ziel der heutigen Entwicklung ist, sich vom westlichen Vorbild zu lösen und sich gleichzeitig der Macht der kommunistischen Doktrin überlegen zu erweisen. Auf der Basis der von Muhammad verkündeten Lehre stellt der Islam einen Totalitätsanspruch an den Menschen. Politik und Gesellschaftslehre sind nicht nur unmittelbar mit der Religion verbunden, sie sind darüber hinaus als Bestandteil des Glaubenssystems anzusehen. Die Auslegung der Lehre und die aus dieser Interpretation resultierende Organisation von Staat und Gesellschaft waren nicht einheitlich, sondern führten zur Entstehung verschiedener Schulen und Systeme. Wichtig für die weiteren und vor allem neueren Entwicklungen ist die Tatsache, daß sich die islamische Welt vor eine Reihe gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher, religiöser und kultureller Probleme gestellt sieht, die sich aus dem Zusammentreffen mit dem technisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich überlegenen Westen ergeben. Eine theoretische und praktische Rückwendung zum Islam soll zur Rückgewinnung eigener, verlorener Identität verhelfen. Infolge seiner Revolution, die schließlich aus allen Begegnungen der letzten 200 Jahre resultiert, beansprucht das islamische Land Iran für sich, ein mustergültiges Beispiel hierfür zu liefern.—Die Redaktion.
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GOTT-MENSCH-BEZIEHUNGEN
Jeder Mensch als Individuum wie als Mitglied der umma steht in einer direkten Beziehung zu Gott. Keine Person — nicht einmal Muhammad —,‚ sondern allein die Lehre, der Islam, ist es, die die Verbindung zwischen dem Menschen und Gott herstellt. Die Gesandten und Propheten sind also keinesfalls Mittler.
Die daraus entstandene Gott-Mensch-Beziehung wird bestimmt:
1. Durch die Überzeugung, daß es nur einen Gott gibt; daß das Prophetentum zur Verkündung dieser wahren Lehre notwendig ist; daß die Verbindung zwischen Gott und den Menschen nicht mit dem Tod abbricht, sondern es einen m a‘a d, eine Wiederkehr am Tag des Jüngsten Gerichts, und in diesem Sinne ein Weiterleben gibt.
2. Durch die Handlungen, die dieser Überzeugung Ausdruck verleihen, beziehungsweise diese in die Tat umsetzen.
Der Islam hat somit einen Totalitätsanspruch auf:
a) Die Bestimmung der Glaubensbekenntnisse und die dazu notwendigen Überzeugungen;
b) Die Regelung aller Handlungen des Menschen in seiner Beziehung zu Gott, in seinem privaten Leben als Individuum und in seinem gesellschaftlichen Leben als Mitglied einer Familie und überhaupt als Mitglied der islamischen Gemeinschaft (um m a);
c) Die Schaffung eines gesellschaftlichen Rahmens, der die Erhaltung und die Ausübung der Glaubensbekenntnisse und der damit zusammenhängenden Lebensregelungen ermöglicht und das Fortbestehen einer solchen Gemeinschaft garantiert — wofür jedes um m a - Mitglied verantwortlich ist.
Diese Ansprüche werden nicht als fraglos hinzunehmende Dogmen geltend gemacht. Der Mensch wird vielmehr verschiedentlich dazu aufgefordert, darüber nachzudenken und sie kraft seiner reinen Natur (qua Gottesgeschöpf) und kraft seines reinen Herzens zu akzeptieren1.
Dieses welt- und lebensbezogene, in sich als Einheit abgeschlossene, zum Mitdenken provozierende Glaubenssystem hat von Beginn an bis heute das Wesen, das Leben und die Entwicklung des Islam bestimmt und wird diese auch weiterhin bestimmen1.
Entscheidend dabei sind:
A. Politik und Gesellschaftslehre sind nicht nur unmittelbar mit der Religion verbunden3, sie sind darüber hinaus als ein Bestandteil des Glaubenssystems, also als religiöse Akte, anzusehen. Es ist die religiöse Pflicht jedes Muslim, für den Schutz des Islam und die innere Stabilisierung der u m m a zu sorgen und nach außen hin beide gegen ihre Feinde zu verteidigen.
B. Die weltbegreifende Tendenz des Islam, begleitet vom Ringen um die Darstellung und Rechtfertigung der Glaubensbekenntnisse, haben zur Entstehung und zum Ausbau der islamischen Glaubenslehre in verschiedenen Variationen geführt, die jeweils versuchten, eine entsprechende systematische Weltanschauung des Islam vorzutragen4.
C. Die Lebens- und Weltüberwindung als eines der Hauptziele der islamischen Lehre, unterstützt von der raschen Ausbreitung des Islam und von der Konfrontation mit anderen nicht-islamischen Sitten, Gebräuchen, Gesetzen und Lebensweisen, veranlaßte die islamischen Gelehrten, die neuentstandenen Fragen und Probleme im Sinne der islamischen Gesetzgebung zu erarbeiten und ein beachtliches Rechtssystem in verschiedenen Prägungen zu schaffen (siehe unten: Rechtssysteme).
D. Keine dieser Entwicklungen hätte das gewonnene Ausmaß erreicht, wenn nicht der Islam nach dem Tode Muhammads so rasch um sich gegriffen hätte. Als überlegene Macht war der Islam nämlich in der Lage, besonnen und bewußt das — islamisch gesehen — Annehmbare zu adaptieren und das Unannehmbare zu verwerfen. Der islamischen Welt gelang es auf diese Weise, stets die urtümliche Einheit des islamischen Glaubenssystems beizubehalten und weiterzuentwickeln. Die unterschiedlichen Ansätze, Methoden und Zielsetzungen haben jedoch dafür gesorgt, daß die angestrebte Einheit recht unterschiedliche Auslegungen gefunden hat5.
Allenfalls gelang es der islamischen Welt, aus alledem eine jahrhundertelang weite Teile der Welt beherrschende islamische Kultur zu schaffen. Diese glorreiche Zeit ist es, an die seit etwa 200 Jahren die islamischen Reformer mit einer gewissen Nostalgie zurückdenken und je nach Ziel und Einstellung hoffen, in dieser oder jener Periode, Richtung oder Schule Vorbilder für neue Ansätze zu finden. Eine kurze Analyse der islamischen Lehre und ihrer geschichtlichen Entwicklung soll helfen, die Hintergründe der sich seit langem vollziehenden Bewegungen in der islamischen Welt und das Ausmaß ihrer erzielten und zu erzielenden Erfolge zu erörtern.
Staat, Weltanschauung und Gesetz: ihre Entwicklung in der islamischen Welt
Wie angedeutet bildet im Islam die politische und gesellschaftliche Verpflichtung einen Bestandteil des islamischen Glaubenssystemes. In diesem Sinne wird die islamische Staatslehre von der Idee der islamischen Weltanschauung getragen und findet mit Hilfe des islamischen Gesetzes ihre Verwirklichung. Maßgebend ist dabei die Überzeugung von der Gerechtigkeit, die das Entstehen eines solchen Staates ermöglicht und sein Bestehen sichert: Gerechtigkeit im Sinne eines absoluten Geordnetseins der Welt als Schöpfung Gottes, Gerechtigkeit im Sinne einer absoluten Gleichheit des Menschen als Individuum und als um m a - Mitglied vor
Staat und Weltanschauung
dem Gesetz sowie vor der legislativen wie auch der exekutiven Gewalt, und schließlich Gerechtigkeit im Sinne einer absoluten Wertgleichheit der Menschen untereinander und vor Gott. Keiner, nicht einmal der oberste Herrscher, hat das Recht, sich irgendwelche Privilegien zuzulegen, von der Besoldung durch die Staatskasse angefangen bis zur gesellschaftlichen Rangordnung. Leistung in jeder Hinsicht und der dementsprechende Verdienst gelten zwar als gesellschaftliche Prinzipien, doch dürfen weder sie noch andere (wie Reichtum, Abstammung, Rang, Position, Geschlecht) zu einem Wertunterschied zwischen den Menschen führen. Leistung wird als Erfüllung einer Pflicht gegenüber Gott und den Mitmenschen angesehen. Die Erfüllung dieser wie jeder anderen Verpflichtung bildet die islamische Frömmigkeit; eine Frömmigkeit, die das Ansehen des Menschen vor Gott, aber nur vor Gott, hebt, ohne einen Wertunterschied zu erzwingen. Um diese Frömmigkeit und nicht um eine passive Zurückgezogenheit handelt es sich bei dem Koranvers (49/13): "Der Edelste von euch vor Gott ist der Frömmste"; eine Aussage, die das Verhalten Muhammads und seines engsten Kreises eindeutig charakterisiert.
Mit welchen Schwierigkeiten die Verwirklichung einer solchen, nicht einfachen Gerechtigkeitsidee und mit welch hohen Erwartungen sie seitens der um m a verbunden ist, läßt sich ahnen. Die logische Folge davon ist, daß an sich jeder Muslim für den lslam und die umma dienend verantwortlich ist, auch wenn nicht jeder Mensch in der Lage ist, die Gesamtverantwortung auf sich zu nehmen. Unter Beteiligung aller u mm a - Mitglieder sollte aber die Gesamtverantwortung das höchste islamische — politische, gesellschaftliche und religiöse — Amt repräsentieren. Ein solches — als religiöse Pflicht gedachtes und von der u mm a getragenes — Amt kann weder diktatorisch noch theokratisch sein. Wie wichtig dieses höchste Amt für die Muslime gewesen ist, zeigt sich darin, daß die allererste Frage nach dem Tode Muhammads. die Frage danach, also nach der Führung der u m m a ‚ gewesen ist. Daß diese Frage nicht losgelöst von dem Glaubenssystem als eine rein "weltliche" politische Frage gestellt wurde, sieht man an der Bezeichnung des Amtsinhabers. Er heißt Kalif: Stellvertreter und Nachfolger Muhammads in seiner religiösen Funktion als Führer und Beschützer der um m a und des Islam. Diese Überzeugung war in der Tat der Ausgangspunkt für die weitere geschichtliche, politische und religiöse Entwicklung des Islam. Die unterschiedliche Auffassung von dem Inhalt dieser Funktion hat zum Entstehen mehrerer Richtungen innerhalb des Islam geführt, von denen uns hier hauptsächlich nur zwei Richtungen, Sunna und Schia, beschäftigen werden:
Besteht die Funktion dieser Nachfolgeschaft hauptsächlich darin, den Islam und die u m m a zu beschützen — so die sunnitische Auffassung —oder mußte Muhammads Nachfolger darüber hinaus unbedingt über eine inspiratorisch-wissenschaftliche Fähigkeit verfügen, die ihm den Zugang zu der Offenbarungssphäre ermöglichte, eine Fähigkeit, die keine neue Offenbarung, sondern — so lautete die schiitische Überzeugung — das absolut richtige Verständnis der Offenbarung zur Folge hatte?
Die erste, historisch gesehen dominierende Auffassung mußte folgerichtig auch denjenigen Staatsmann als Nachfolger Muhammads akzeptieren, der keinen Anspruch erhob, für die geistigen und religiösen Belange der u m m a zuständig zu sein. Da aber die Verantwortung für die geistigen Belange des Volkes einen ebenso wichtigen Teil von Muhammads Funktion bildete, mußte sie konsequenterweise auch weiter vertreten und fortgesetzt werden. Diese Funktion ist mit der Zeit — vor allem seit Beginn der umayadischen Herrschaft (s. unten) — denjenigen Gruppen zugefallen, die sich am meisten damit beschäftigt haben, also den Gelehrten, die nicht in der Form einer Körperschaft als Kirche, Moschee usw., sondern als Fachleute für religiöse Belange fungierten6.
Die auf diese Weise entstandene Trennung ist in keiner Weise eine Trennung zwischen Staat und Religion. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Teilung der Führungsfunktionen, die in der Person Muhammads vereinigt waren, die sich aber bei seiner Vertretung in der islamischen Welt, sofern diese von Sunniten beherrscht wurde, de facto getrennt haben. So hat es — von der Zeit der ersten vier Kalifen (632—661) abgesehen — für die sunnitische Gemeinschaft zwei nebeneinander bestehende wichtige Führungen gegeben, denen jeweils — nach der koraniscben Anweisung — unbedingt gehorcht werden mußte: "Ihr Gläubigen! Gehorcht Gott und dem Gesandten und denen unter euch, die zu befehlen haben! (nämlich die uli l-am r)" (Koran 4/59).
Dies ist der geschichtliche Ablauf dieses überaus wichtigen Amtes gewesen. Das bedeutet aber nicht, daß alle sunnitischen Gelehrten innerhalb der sunnitischen Tradition mit dieser Art der Führung der um m a einverstanden gewesen sind. Selbst die sunnitische Tradition weist eine Fülle von scharfen Kritiken und Vorhaltungen auf, die die islamischen Gelehrten den amtierenden Herrschern entgegengebracht und ihr Verhalten als "unislamisch" bezichtigt haben1. Diese Kritik ist unter den Reformatoren des letzten Jahrhunderts und ganz besonders innerhalb der jüngsten islamischen Bewegungen in der sunnitischen Welt wieder in Erscheinung getreten und hat sich sogar bis zu einer totalen Ablehnung der Kalifen zugespitzt (wie betont, die ersten vier "rechtgeleiteten" Kalifen ausgenommen).
Die von allen diesen und anderen älteren wie auch jüngeren islamischen sunnitischen Bewegungen betont hervorgehobene Sehnsucht nach der Zeit der ersten vier ." rechtgeleiteten" Kalifen als nach einem nachzuahmenden Vorbild, schließt unmittelbar und unverblümt alle anderen Kalifatszeiten
— umaiyadische, abbasidische, uthmanische usw. — als Vorbild aus.
Schon der von den Sunniten geprägte Ausdruck "rechtgeleitet", als Prädikat für die ersten vier Kalifen, läßt einen Zweifel gegenüber dem Rest der islamischen Kalifen durchblicken.
SUNNITEN UND SCHIITEN
Somit ist es — beabsichtigt oder nicht —zu einer gewissen faktischen Übereinstimmung des Verhaltens der Sunniten und Schiiten in der Kalifatfrage gekommen. Man könnte denken, einer realen Basis für eine praktikable politische und religiöse Zusammenarbeit der beiden Hauptrichtungen näher gekommen zu sein, und dies ist für die künftigen Entwicklungen in der islamischen Welt von entscheidender Bedeutung (s. hierzu auch Anmerkung 5).
Dieser sunnitischen Auffassung von der Nachfolgerschaft Muhammads
— in ihrem Ursprung und der Geschichte — steht die diesbezügliche schiitische Überzeugung gegenüber, die von einer anderen Voraussetzung getragen wird: Festhaltend daran, daß der Sinn und Zweck der Nachfolgerschaft Muhammads erst gewährleistet ist, wenn der Nachfolger die beiden Funktionen in sich vereinigt, haben sich die Schiiten nämlich mit der Trennung in der Ausübung dieser Funktionen nicht einverstanden erklärt. Die Führung der um m a , also die islamische Staatsführung, ist nach ihnen in ein und demselben Akt mit der islamischen Weltanschauung und mit dem islamischen Gesetzessystem verbunden und muß von ein und derselben Person bekleidet werden. So wird bei den Schiiten — im Gegensatz zu ihren sunnitischen Glaubensbrüdern — dieses komplexe Führungsamt zu einem weiteren Glaubensprinzip erhoben, neben den oben genannten drei Prinzipien (usul al-aqida): Glauben an Gott, an das Prophetentum und an m a‘ä d, Wiederkehr am Tage des Jüngsten Gerichts. Das Gemeinsame an der sunnitischen und schiitischen Auffassung bleibt jedoch dies, daß die Führung der um m a ein religiöser Akt, eine religiöse Verpflichtung ist. Soweit die Hauptmerkmale der sunnitischen und schiitischen Auffassung.
Fragt man nach den religiösen und, in dem genannten Sinne, den politischen und gesellschaftlichen Folgen und Auswirkungen dieser beiden Auffassungen in der Geschichte, so lassen sich diese wie folgt umreißen:
Die sunnitische Auffassung erfaßte von Beginn an die absolute Mehrheit der Muslime. Deswegen richtet sich die Einteilung der Epochen der islamischen Geschichte nach der politischen Herrschaft dieser Mehrheit. Man unterscheidet im allgemeinen vier Zeitabschnitte mit je einem kulturell, politisch und gesellschaftlich entscheidenden Spezifikum:
Die Zeit der rechtgeleiteten Kalifen: Die Gründung des islamischen Reiches.
Die Zeit der umaiyadischen Herrschaft: Die Zeit der Integration des Islams in die Weltgeschichte.
Die Zeit der abbasidischen Herrschaft: Die geistige und kulturelle Blütezeit des Islams.
Die Periode einer geistigen und gesellschaftlichen und politischen Versetzung.
Zu diesen ist aber eine fünfte hinzuzufügen, nämlich die Zeit des Wiedererwachens und der Suche nach der verlorenen Identität.
Ausbreitung des Islams und die Gründung des islamischen Reiches
Der erste Zeitabschnitt beginnt mit der Wahl Abu Bakrs zum ersten Kalifen (632—634) Mu.hammads, worauf ‘Umar (634—644) als zweiter, ‘Uthman (644—656) als dritter und schließlich ‘Ali (656.—661) als vierter folgten. Diese Periode, in der die Ausübung der islamischen Lehre und in der vor allem die Praktizierung der islamischen Gesellschaftsidee des islamischen Staatswesens der Zeit Muhammads am nächsten stand und deshalb im Vergleich zu den späteren Epochen als reinste gilt, wird als goldene, als reine Zeit und auch als Zeit der al-Khulafä‘ ar-Räsidün, die Zeit der rechtgeleiteten Kalifen bezeichnet. In dieser Zeit hatte der Islam bereits Syrien, Iran und Ägypten (alle in ihrem damaligen Umfang) erfaßt.
Und doch wurde gerade in dieser Periode der Grundstein für alle späteren, in verschiedene Richtungen laufende Entwicklungen auf politischer und religiöser Ebene gelegt.
Dazu hat nicht zuletzt die Person ‘Alis den Hauptanlaß gegeben. Während eine extreme—von‘Ali selbst bekämpfte—Gruppe (G u l ä t: Extremisten) ‘Alis Rang bis an die Schwelle der Gottheit erhob, hatten die anderen Gruppen (K h ä r i d j i t e n, sich gegen ‘Ali, als den sonst von allen anderen Muslimen anerkannten Kalifen, Auflehnende) ihn für ungläubig erklären wollen (die gemäßigste Gruppe von ihnen, die ‘I b ä d i t e n, ist heute noch in Südarabien und Nordafrika vertreten). Der Anlaß war ihre Unzufriedenheit mit dem Kampfesausgang gegen Mu‘awiya (657), der als von dem dritten Kalifen eingesetzter Statthalter in Syrien sich ‘Ali als viertem Kalifen nicht unterordnen wollte. Ansonsten wurde ‘Ali von den Sunniten als vierter Kalif und von den Schiiten als erster Imäm akzeptiert. Die gesellschaftliche Profilierung der Unstimmigkeiten hat den bis dahin latenten Rivalitäten der Stämme untereinander und den sonstigen politischen, gesellschaftlichen und religiösen Tendenzen ihre feste Form und für alle Zeiten ihre feste Richtung gegeben. Sogar die spätere spekulative Glaubenslehre (kalam) glaubt, ihren Ursprung in der Streitigkeit um ‘Ali zu finden. Die k ha r i d j i t i s c h e Haltung gegen ‘Ali warf nämlich die erste theologische Frage auf: "Schadet eine religionswidrige Handlung dem Glauben der Betroffenen oder des Betroffenen, so daß sie beziehungsweise er in den Unglauben verfällt und sie beziehungsweise er deshalb zu bekämpfen ist oder nicht?" Die Diskussion über diese Frage soll die Entstehung der späteren M u‘t a z i I i t e n (siehe unten) bewirkt haben. Dennoch bildet diese Zeit neben der Zeit Muhammads eine der wichtigsten Perioden, in der man Ansätze für die Renaissance des Islam sucht.
Die Integration des Islams in die Weltgeschichte
Der zweite Zeitabschnitt, als um a i y ä d i s c h e Periode bezeichnet (661 —Beginn der Verselbstständigung Mu‘awiyas—749), stand im Zeichen noch größerer Eroberungen: Der Islam breitete sich nach Osten bis Transoxanien, Chinesisch-Turkestan und dem lndusgebiet (Sind), nach Westen bis in den Maghreb und nach Spanien aus.
Mit den Umaiyaden ging — von kleineren Ausnahmen abgesehen —der genuin islamische Charakter des islamischen Staates verloren. Die im Sinne der Gerechtigkeit und Gleichheit auf die Bedürfnisse des Volkes gerichtete Einfachheit der Staatsform wurde durch ein luxuriöses, prunkhaftes hierarchisches Kaisertum ersetzt.
Gerade darin, nämlich in dem Verlust der von Muhammad erkämpften Gleichheit und Gerechtigkeit, sah Ali während seiner Amtszeit als Kalif die Gefährdung des Islams. Sein Kampf gegen Mu‘awiya und der spätere Kampf seines Sohnes Husain, des dritten Imam der Schiiten, gegen Mu‘awiyas Sohn Yazid (680—683) waren u. a. darin begründet. Die umaiyadische Herrschaftsform hat darüber hinaus auch unter den Sunniten eine Reihe von Protesten ausgelöst. Die gesellschaftlich und religiös gespannte Atmosphäre innerhalb der islamischen Gemeinschaft warf die Frage nach der Freiheit des Menschen auf: "Ist der Mensch in seiner Handlung frei oder ist seine Handlung durch den göttlichen Willen determiniert?" Die umaiyadische Staatsideologie hat nicht selten den Determinismus als Rechtfertigungsgrund für diejenigen Handlungen angegeben, die allgemeine Proteste bewirkt hatten.
Geistige Entwicklungen
Kulturell gesehen fand bereits in dieser Zeit ein reger Austausch des Islam mit den besiegten Kulturen und Religionen statt. Vordergründig beschäftigte man sich mit der Übernahme der Medizin, Alchemie, Astronomie usw. Orientiert an den anderen Religionen und Weltanschauungen und sich mit diesen auseinandersetzend, wurde das Fundament für die spätere systematische Glaubenslehre (k a l ä m) gelegt.
Für ein Verständnis der gesamten geistigen und politischen Entwicklung dieser und der nächsten Periode ist es wichtig festzustellen, daß die Begegnung und der Dialog des Islam mit den anderen Religionen und Kulturen — wie einst beim Hellenismus — nicht als Begegnung zweier lebloser Kulturmodelle stattfand, sondern durch die Träger und Vertreter der beteiligten Kulturen bewerkstelligt wurde. Die Vertreter anderer Kulturen haben sogar als Nichtmuslime an dem Aufbau der islamischen Geistes- und Kulturwelt mitgewirkt. Und dennoch war diese rege frucht-bare Zusammenarbeit der arabischen und nicht-arabischen Nationen in der Umaiyadenzeit von einer negativen Tendenz überschattet, welche, die anderen antiumaiyadischen Strömungen zur Hilfe nehmend, schließlich den Sturz der Umaiyaden bewirkte. Es war die Tendenz eines offenkundigen Panarabismus, der immer mehr — den koranischen Vorschriften zuwider — in eine Diskriminierung der nicht-arabischen Völker ausartete.
Die Unzufriedenheit der arabischen Opposition zusammen mit dem Zorn der diskriminierten Nicht-Araber (vorwiegend der iranischen Muslime8) haben der umaiyadischen Herrschaft zugunsten der Abbasiden ein Ende gesetzt.
Die geistige und kulturelle Blütezeit des Islam
Mit den Abbasiden fängt die dritte, die glorreiche, islamische Periode an (749—1258). Von den gelegentlichen Eroberungen durch einzelne Dynastien (im Osten nördliche Gebiete des Iran und Pandjab und im Westen Kleinasien) abgesehen, haben vor allem die frühen Abbasiden (8.—10. Jahrhundert) in Zusammenarbeit mit den Vertretern anderer Kulturen erreicht, aus den zusammengeflossenen Strömungen in Gestalt islamischer Denkweise eine Weltkultur mit allen wissenschaftlichen Fachrichtungen aufzubauen, von der die abendländische Kultur bis heute Zeugnisse aufweist.
Die umaiyadische Staatsideologie, die auf die Determiniertheit der menschlichen Handlung hinauslief, provozierte bereits in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts die Gegenthese. Die Freiheit des Menschen, die Selbständigkeit der Vernunft (als von Gott geschaffene leitende Kraft im Menschen) und das Prinzip der Gerechtigkeit innerhalb der göttlichen wie menschlichen Sphäre bilden die Fundamente der neuen Antithese. Daraus ist eine neue Schule entstanden, deren Lehre fast 200 Jahre als Staatsideologie der Abbasiden fungiert hat, nämlich die M u‘t a z i l i t i s c h e Schule.
Überzeugt von dieser Ideologie setzten sich die frühen Abbasiden für die Übernahme des iranischen, indischen, christlichen, jüdischen und vor allem des in Ägypten und Byzanz lebenden griechisch-alexandrischen Gedankengutes ein. Daraus sind unter der Obhut des Islam diverse Konzeptionen des Verhältnisses Gott-Welt-Mensch als verschiedene Formen der islamischen Weltanschauung entstanden: von den mystischen, philosophischen und sektiererischen Weltanschauungen angefangen bis zu den spekulativ-theologischen, jede in ihren verschiedenen Schattierungen. Gegen alle diese, mehr oder weniger von fremden Kulturen beeinflußten, islamischen Weltanschauungen opponierte hartnäckig die konservative Richtung, die sich gegen jede Einmischung der Vernunft über den Wortlaut des Korans und der Tradition hinaus aussprach.
Dies und interschulische Streitigkeiten der M u‘t a z i l i t e n, aber auch ihre Übertreibungen im Hinblick auf die allegorische Bedeutung des Korans und der Tradition, zogen folgerichtig eine Schule nach sich, die weder wie die Konservativen engstirnig, noch wie die M u‘t a z i l i t e n übermäßig frei mit der Auslegung des Korans und dem Wort und Handeln Muhammads (genannt s u n n a) umging, nämlich die a s’a r i t i -s c h e Schule, gegründet von Abü l-Hasan aI-As ´ari (gestorben 946). Die Vernunft und ihre Leistung wird von ihm geschätzt, sie soll aber im Dienst der Religion stehen und nicht umgekehrt die Offenbarung im Dienste der Vernunft, wie dies die eindeutige praktische Folge des aufklärerischen Umgangs der M u‘t a z i l i t e n mit der Vernunft und der Offenbarung war.
Zu bejahen ist nach ihm ebenso die Freiheit des Menschen, aber nur, sofern diese die Allmacht Gottes nicht einschränkt. Infolge der Einschränkung der menschlichen Freiheit ändert sich aber auch die Grenze der Gerechtigkeit innerhalb der göttlichen und menschlichen Sphäre.
Die a s ‘a r i t i s c h e Lehre und Schule verdrängte, mit Unterstützung der amtierenden abbasidischen Kalifen, in einer verhältnismäßig kurzen Zeit die m u‘t a z i l i t i s c h e theologische Lehre und Weltanschauung und ist — erstaunlicher- und zugleich seltsamerweise — seit dieser Zeit, also über 100 Jahre, die dominierende Glaubenslehre der sunnitischen Welt des Islam geblieben. Im Gegensatz zu der m u‘t a z i l i t i s c h e n Schule ist die a s´a r i t i s c h e keine philosophiefreundliche Schule gewesen. Die antiphilosophischen Bücher in der islamischen Tradition sind hauptsächlich aus den Federn der a s á r i t i s c h e n Gelehrten entstanden.
Die Entstehung der islamischen Rechtsschulen: Madhähib
Was das islamische Gesetz als die legislative Gewalt des islamischen Staates, also als Bestandteil des islamischen Glaubenssystemes, angeht, so hat dies bereits im Zuge der Eroberung und der Ausbreitung des Islam, und zwar in Konfrontation mit anderen Völkern, mit ihren Sitten, Gebräuchen und Gesetzen, mit einem neuen Leben begonnen. Um seinen totalitären Ansprüchen — für das private und öffentliche Leben der Muslime aufzukommen — gerecht zu werden, mußte das islamische Gesetz eine islamisch-juristische Antwort finden. Es stützt sich auf die islamischen Rechtsgrundlagen: Koran, die Aussagen und Handlungen Muhammads (s u n n a), den Analogieschluß und den Konsensus — für alle von verschiedenen Seiten und verschiedenen Völkern auf den Islam zugekommenen Erscheinungen, also für alle neu entstandenen Lebensbereiche der Muslime (angefangen von den gottesdienstlichen Handlungen bis hin zu Straf- und Erbrecht) mit verschiedener kultureller Herkunft. Diese Versuche und Bemühungen der Rechtsgelehrten innerhalb des sunnitischen Islam haben vier große, bis heute bestehende Rechtsschulen hervorge-bracht:
a) Die Schule von Abu Hanifa (699—767; auch hanafitische Schule genannt), die staatliche Schule der Abbasiden und Osmanen, die heute noch in den Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches, zudem in Afghanistan, Pakistan, Turkestan, Zentralasien, Indien, China, Südamerika und den Balkanstaaten praktiziert wird. Etwa ein Drittel der Muslime gehört heute der h a na f i t i s c h e n Rechtsschule an.
b) Die Schule von Malik Ibn-Anas (715—795; auch m a l i k i t i s c h e Schule genannt). Sie verbreitete sich, ausgehend vom Hedschas und vor allem der Prophetenstadt Medina, nach Nordwestafrika, nach Tunesien, Algerien, Marokko und Spanien. Außerdem gibt es sie noch in Oberägypten, Mauretanien, dem Sudan, Kuwait und Bahrein.
c) Die Schule von Muhammad Ibn ldris as-Schafi‘i (767—820; s c h a f i ´i t i s c h e Schule genannt). Diese Schule — im Prinzip gegen die oben genannten M u‘t a z i l i t e n — hat über den großen Reformer lbn Taimiya (1263—1328) auf den Begründer der wahhabitischen Schule, Muhammad lbn ‘Abdalwahhab (1703—1787), in Saudiarabien gewirkt. Als zahlenmäßig schwächste Schule wird sie heute außerdem noch in Syrien, dem Irak, zum Teil in Ägypten, Indien, Afghanistan und Algerien praktiziert.
(Über die in dieser Zeit entstandenen juristischen Schulen der Schia vgl. unten).
Historisch und kulturell gesehen hat der Islam in dieser Periode seinen bis jetzt höchsten Punkt erreicht und zwar als eine Weltmacht, die von allen zeitgenössischen Mächten akzeptiert wurde, und als eine Kulturgröße, die in allen Fachrichtungen von interkulturell höchsten Kapazitäten der Geschichte vertreten wurde.
Der Zersetzungsprozeß der geistigen Größe des Islam
Bereits ab Mitte des 11. Jahrhunderts zeichnet sich aber in der islamischen Welt ein spürbares Nachlassen der vorangegangenen Dynamik ab. Ob die innere politische Aufspaltung der islamischen Welt, der Abbruch ernsthafter Kontakte und Dialoge mit anderen Kulturen und geistigen Strömungen der damaligen Welt oder politische Rückschläge, die die islamische Welt hinnehmen mußte, und dergleichen mehr dafür verantwortlich sind, ist eine Sache, die hier — der Kürze wegen — nicht diskutiert werden kann. Fest steht jedoch, daß die vierte Periode, von 1258 bis heute, mit einer gewissen Ziellosigkeit angefangen hat. Charakteristisch ist für diese Zeit darum die immer mehr an Basis und Fundament verlierende und somit realitätsfremde Entwicklung des Islam gewesen. Auch die Bildung einzelner Imperien im islamischen Osten und Westen konnte nicht mehr dem Zersetzungsprozeß des Geistes Einhalt gebieten. Nicht einmal das mächtige Osmanische Reich (14.—20. Jahrhundert) mit dem Anspruch auf das Kalifat hat trotz jahrhundertelanger Nachbarschaft und direkten Kontakten mit dem emporsteigenden Abendland die den Islam und die Muslime von innen und außen bedrohenden Gefahren vorausahnen und dagegen angehen können. Im Gegenteil, die von Machtsucht getragenen Brüderkämpfe hatten weder den Herrschern — deren Staatsauffassung längst nicht mehr allen islamischen Maßstäben vom Staat entsprach — noch der für den Islam und die um m a verantwortlichen Geistlichkeit Zeit gelassen, darüber nachzudenken, was im christlichen Abendland vor sich ging. Dabei war sich aber das christliche Europa der Vorteile durchaus bewußt, die ihm die Brüderkämpfe in den islamischen Ländern brachten, vor allem der Krieg zwischen dem schiitischen Iran und dem sunnitischen Osmanischen Reich Anfang des 16. Jahrhunderts.
Wichtig ist für uns die Feststellung, daß es sich gerade bei den Erneuerungsbewegungen in den letzten zwei Jahrzehnten um das Verhältnis zwischen dem christlichen Abendland und dem islamischen Morgenland handelt; ein Verhältnis, welches durch jene Versäumnisse der Muslime und diese Vorauskalkulation des Westens bestimmt ist. Zu betonen ist die Tatsache, daß von dem mit diesem Verhältnis verbundenen Lob oder Tadel nicht nur die Sunniten, sondern genauso auch die Schiiten betroffen sind.
Die Schia, ihre Rolle und ihre Bedeutung
Wie oben angedeutet, hält der schiitische Glaube ‘Ali, den Vetter und Schwiegersohn Muhammads, für den ersten rechtmäßigen I m ä m. I m ä m bedeutet "vorbildlicher Führer", womit die Schiiten denjenigen Führer meinen, der als Vertreter Muhammads — wie er selbst — die um m a in allen ihren gesellschaftlichen und individuellen Problemen als Vorbild führen, ihr beistehen und in diesem Sinne den Islam schützen kann. Die Frage, wer nach ‘Ali der Imam ist und welche Reihenfolge danach die richtige ist, hat zu einer Vielzahl von Zersplitterungen inner-halb der Schia geführt. Die bedeutendsten Gruppierungen sind die heute noch existierenden Zaiditen, die Ismailiten und die Zwölfer-Schiiten (auch Imamiten genannt).
Die Zaiditen haben mit einigen Unterbrechungen von 860 bis heute ihre Macht im Jemen behauptet, von wo aus sie auch in frühislamischer Zeit ihren Einfluß auf iranische Gebiete südlich des Kaspischen Meeres erweitern konnten (864—1126).
Den bedeutendsten ismäilitischen Staat haben die Fätimiden als Rivalen der Abbasiden von 909 bis 1171 in Nordafrika mit Kairo als Kalifatszentrum gebildet.
IMAME DER SCHIA
(angegeben ist jeweils das Todesdatum)
‘Ali ibn Abi Talib (661)
Hasan (669)
Husain (680)
Zain al-‘Abidin (712/13) + Zaid (739)
Muhammad al-Bäqir (731) Z a i d i t e n
Ga‘f ar as-Sadiq (765) + Isma‘il (760)
Müsä al-Käzim (799) + I s m a i l i t e n
Ali ar-Rida (818)
Muhammad at-Taqi (830)
‘Al i an-Naqi (868)
11. Hasan al-‘Askari (873/74)
Muhamrnad al-Mahdi (874, entrückt) (Zwölfer-Schiiten / l m am i t e n)
Was die Zwölfer-Schia angeht, so ist es außer ‘Ali ihren anderen Imamen nie vergönnt gewesen, zusätzlich zu ihrer geistigen Führungsrolle auch die Staatsgewalt zu übernehmen, was aber keineswegs einen Verzicht auf diesen Anspruch bedeutete. Im Gegensatz zu den Zaiditen und den Isma‘iliten endet die Kette ihrer Imame mit dem 12. Imam, der 874 entrückt wurde, beziehungsweise in die Verborgenheit getreten ist. Damit wird die Zwölfer-Schia mit einem Problem konfrontiert, das sonst keine andere islamische Richtung kennt:
Nach wem sollen sich nämlich die Schiiten seit 874 richten, wenn ihre Imame nicht mehr erreichbar sind?
Die dafür vorgetragene Lösung ist wiederum charakteristisch für die lmamiten: Es ist der Rechtsgelehrte, Faqih, der als "nä‘ib al-imäm", Stellvertreter des Imam, die geistlichen und gesellschaftlichen, also die weltlichen und religiösen Ämter des Imam übernehmen soll. Im Gegensatz zu den Imamen fehlt ihm jedoch die Inspirationsfähigkeit. F a q i h ist also derjenige, der nur kraft logisch-wissenschaftlicher Kriterien aus den islamischen Rechtsgrundlagen das jeweilige Urteil eruieren kann.
Glaubensspezifikum der Schia
Hier manifestiert sich ein theologisch, gesellschaftlich und politisch gesehen spezifisches Moment, das neben dem Glauben an das Imamat (Amt eines Imams) die Besonderheit des schiitischen Glaubens — im Gegensatz zu ihren sunnitischen Brüdern — ausmacht, nämlich die oben, bei der Wesensbestimmung des islamischen Staates, erläuterte Gerechtigkeit.
Die direkte politische Konsequenz dieser Auffassung der Imamiten war, daß sie zu Lebzeiten ihrer Imame — mit Ausnahme der ersten vier Kalifen, von denen der vierte zugleich ihr erster Imam war — die späteren amtierenden Kalifen nie anerkannt haben und stets in Opposition lebten10. Diese oppositionelle Haltung, sowohl zu der Zeit der Imame wie auch später, hat ihnen sehr viele Unterdrückungen eingebracht und sie sogar Märtyrer gekostet, an deren Spitze, wie erwähnt, der dritte Imam, also Husain (gefallen am 8. Oktober 680 in Kerbala) steht. Als Hauptgrund für diese oppositionelle Haltung gilt, wie oben angedeutet, das Fehlen der von Muhammad geforderten Gleichheit und Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit gehört nämlich neben Gott, Prophetentum, ma‘äd und Imam zu den Hauptprinzipien ihres Glaubens, was bei den Sunniten zwar als wichtiges gesellschaftliches Prinzip und, wie oben erwähnt, als Maßstab eines islamischen Staates gilt, aber nicht als Glaubensmoment, wie dies bei den Schiiten der Fall ist.
Gerechtigkeit ist also ein Glaubenselement, nach dem die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Glaubens des Betroffenen als Schia gemessen werden kann. Streng genommen bildet deshalb das Staatswesen ein Spezifikum des Glaubens der Schia. Das heißt, zu der Tatsache, daß die Politik zu dem für Sunna und Schia verbindlichen Glaubenssystem gehört, kommt noch für die Schia hinzu, daß auch das Staatswesen in seiner spezifischen Art — mit Imam oder Faqih an der Spitze und auf Gerechtigkeit fundiert — einen Bestandteil des Glaubens ausmacht. Das bedeutet, daß das Opponieren eines Sunniten gegen einen ungerechten Herrscher (Kalif oder dgl.) eine gesellschaftliche Aufgabe ist, die man auch gelegentlich zugunsten höherer gesellschaftlicher Aufgaben zurückstellen könnte. Hingegen ist das Opponieren der Schiiten gegen Ungerechtigkeit eine Glaubensangelegenheit, die man nicht unterlassen darf.
Aus diesen Gründen ist die Haltung der Schiiten auch gegenüber schiitischen Herrschern nach 874 von Opposition gekennzeichnet. Keiner von ihnen konnte nach den Imamen den Rang eines Muhammad-Nachfolgers erreichen. Auch die schiitischen Staatsmänner bildeten keine Ausnahme, nicht einmal die Safawiden (1501—1722), die die schiitische Lehre zur Staatsreligion im Iran erhoben haben. Und so bleiben nach den Schiiten ihre Imame und nach diesen deren Vertreter, also die schiitischen Rechtsgelehrten, die einzigen — im Gegensatz zur sunnitischen Auffassung — rivallosen u l ü l- a m r (für das materielle und geistige Wohl der umm a Verantwortliche), die aus der Mitte des Volkes und kraft einer ständig begleitenden Anerkennung des Volkes emporkommen und somit keineswegs durch irgendeine Institution von oben bestimmt werden. Sie sind daher außerordentlich mit dem Volk verbunden und werden von diesem finanziell getragen. In diesem und gerade in diesem eigenartigen
Verhältnis zwischen der schiitischen Geistlichkeit und dem schiitischen Volk steckt das Geheimnis der sonst für die übrige Welt unbegreiflichen Durchsetzungskraft des Volkes und der Geistlichkeit in einer unerläßlichen gegenseitigen Beeinflussung: keine Spitze ohne Volk und kein Volk ohne Spitze.
Kultur und Rechtsschulen
Historisch und kulturell gesehen, gelten jedoch auch für die Schiiten alle oben aufgeführten Wesenszüge und Entwicklungsphasen, ganz besonders deshalb, weil die Schiiten (Zaiditen, Isma‘iliten und Imamiten) an dem Aufbau und der Entwicklung der islamischen Kultur, vor allem bei der Aufarbeitung und Umformung des übernommenen Gedankengutes (Philosophie und andere Wissenschaften) in einem, gemessen an der Zahl ihrer Anhänger, überproportionalen Maße beteiligt waren.
Neben den oben genannten haben sich seit Ende der Umaiyadenzeit die zaiditische und kha‘faritische Rechtsschule (genannt nach dem 6. Imam der Zwölfer-Schia) behauptet. Beide sind auch schon seit einigen Jahrzehnten von seiten der al-Azhar Universität in Kairo als rechtmäßige und legitime Rechtsschulen anerkannt.
Zu den Rechtsgrundlagen (und auch zu den Quellen der Glaubenslehre) gehören nach den Schiiten zusätzlich zum Koran und den Aussagen und Handlungen Muhammads (also a s - s unna) die Überlieferungen ihrer Imame, aber ausschließlich als Auslegung des Korans und der S u n n a Muhammads. Ein weiteres Spezifikum der schiitischen Rechtsschule ist dies, daß sie statt des Analogieschlusses die Vernunft (‘a q l) als eine Rechtsgrundlage anerkennt.
Die Zaiditen leben heute hauptsächlich im Südjemen und auch als kleine Minderheit in Pakistan, die Ismailiten im Jemen, in Syrien, im Iran, in Indien, Afghanistan, Turkestan, den oberen Oxusbezirken in Afrika usw., überall als Diaspora. Die Zwölfer-Schia, zahlenmäßig die größte schiitische Gemeinschaft, konstituiert die Mehrheit im Iran und Irak, die große Minderheit im Libanon, in Syrien, Indien, Pakistan und der Türkei, die Diaspora in Afghanistan und Hedschas (vor allem um die Stadt Medina).
Die Zeit des Wiedererwachens und der Suche nach der verlorenen Identität
Wichtig für die weiteren und vor allem für die neueren Entwicklungen ist die Tatsache, daß die islamische Welt — gleichgültig ob Sunniten oder Schiiten — sich vor eine Reihe gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher, religiöser und kultureller Probleme gestellt fand, deren sie sich erst bewußt wurde, nachdem die zwangsläufig herbeigeführten Kontakte zwischen dem technisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich weit überlegenen christlichen Westen mit dem islamischen Osten die Muslime
SUCHE NACH IDENTITÄT
wachrüttelten; Kontakte, die vordergründig und in der ersten Linie zugunsten des überlegenen Partners von materiellen, wirtschaftlichen und politischen Zielen bestimmt wurden. Schwierig und problematisch war für die Muslime diese neue Konfrontation deshalb, weil sie im Gegensatz zu früheren Beziehungen mit anderen großen Kulturen nicht mehr von den Muslimen ausgegangen war und keine geistigen und wissenschaftlichen Belange der betroffenen Menschen — hier der Muslime — zur Basis hatte.
Infolge der früheren Fehlentwicklungen und der neuen, zum Teil von Kolonialinteressen getragenen, der islamischen Welt aufgezwungenen und deshalb für die Muslime basislosen und, von ihnen her gesehen, passiven
— sogar von Widerstand begleiteten — Begegnung stand und steht die islamische Welt vor Problemen, für deren Lösung regionale und gesamt-islamische Bewegungen in Gang gesetzt wurden und werden. Gemeint sind unter anderem folgende Probleme:
1. Die allgemeine Schwäche der Muslime, die durch ihre Gleichgültigkeit dem Leben und der Welt gegenüber begründet war, womit sie sich eindeutig über ein zentrales Anliegen Muhammads hinweggesetzt hatten.
2. Der Verlust der Reinheit der islamischen Prinzipien, die jahrhundertelang den Muslimen die Kraft und die Energie gespendet hatten, große Teile der Welt durch ihre politische und geistige Macht zu beherrschen; eine Verunreinigung der islamischen Grundprinzipien, die auf die Übernahme der Sitten, Gebräuche und Lebenshaltung der zum Islam übergetretenen Völker zurückging.
3. Das Fehlen einer fundierten wissenschaftlichen und kulturellen
Grundlage, um die neue, auf die Muslime zukommende abendländische Welt überlegt und besonnen aufzunehmen, diese mit der durch die eigene Kultur und die eigene Lebensweise bedingten geistigen und praktischen Grundhaltung in Einklang zu bringen und sie in diesem Sinne zu adaptieren, so wie es ihre Vorfahren in der Begegnung mit anderen Kulturen (8—11. Jahrhundert) getan hatten.
4. Das bewußte Desinteresse des überlegenen Partners, den hier Unterlegenen die Möglichkeit einer solchen aktiven Beteiligung einzuräumen, und sogar die bewußte Unterbindung einer solchen Möglichkeit.
5. Die daraus entstandene Konfrontation zweier völlig verschiedener christlich-abendländischer und islamisch-orientalischer Wertsysteme, die ständig neue Konflikte in den verschiedensten Bereichen hervorriefen —und hervorrufen werden.
6. Eine mit allen diesen Fehlkontakten verbundene voreilige Verwestlichungstendenz in den islamischen Ländern, die zwar zu Reformen in den kulturellen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bereichen geführt hat, welche aber unter Mißachtung der einheimischen geistigen und kulturellen Belange bestenfalls fortschrittliche — aber stets abhän-gige — Verbraucher der abendländischen Technik, der abendländischen Wirtschaft und sogar der abendländischen Kultur erzeugt haben. Zu einer aktiven, im geistigen Rang und Können gleichberechtigten Partnerschaft ist es nicht gekommen.
7. Auf den Plan gerufen von all diesen Problemen meldete sich — und meldet sich immer noch — in der islamischen Welt die unbegrenzte Kraft der Religion, die im Gegensatz zu dem, was man im Abendland gewohnt ist, als wichtigste geistige Nahrung — mindestens als wichtigster kultur-bildender Faktor — den Existenzinhalt der Menschen im Orient ausmachte und ausmacht, ob sie gläubig sind oder nicht. Diese Kraft auszuschalten, war und ist nicht möglich, ihr aber bei einer solchen — in ihren Grundzügen beschriebenen — von Grund auf schiefen Situation gerecht zu werden, war und ist eben nicht so einfach.
Alles in allem war und ist die islamische Welt von der Gefahr eines Unterganges der eigenen Kultur, der eigenen Tradition und schließlich der eigenen Identität bedroht, ohne daß ein Ersatz hierfür zu sehen wäre. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, sind mannigfaltige Bewegungen in verschiedenen islamischen Ländern in Erscheinung getreten — und werden dies auch weiterhin tun—, die ihre Wurzeln in der bereits dargestellten Entwicklung des Islam haben und ohne diese nicht zu verstehen sind.
Die regionalen Bewegungen sind in ihrem Ansatz und Verlauf von den wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen, historischen und geographischen Bedingungen des jeweiligen Landes und der Mentalität des jeweiligen Volkes abhängig. Maßgebend waren auch die jeweils vorherrschenden Glaubenslehren und Rechtsschulen, maßgebend war ferner, vom Interesse welcher Kolonialherrschaft (später Imperialismus, Kapitalismus usw. genannt) das jeweilige Land beherrscht wurde. Als Beispiel für die regionalen Bewegungen seien hier zwei entgegengesetzte genannt: Die w ah ha b i t i s c h e Reformbewegung (Begründer: Ibn ‘Abd al-Wahhab, 1703—1787) und die W a l i y u l l a h i - Bewegung (Säh Waliyullah von Delhi, 1703—1781). Die erste Bewegung verlangte die Reform des Islam im Sinne einer Zurückführung der islamischen Gesellschaft zu ihrer ursprünglichen Reinheit und Ordnung auf der Basis der auf der arabischen Halbinsel vorherrschenden ha n b a l i t i s c h e n Rechtsschule. Dement-sprechend forderte diese Bewegung den Ausschluß aller rein intellekt-bedingten Entwicklungen, die der Islam in seiner Begegnung mit den bereits genannten Kulturen gemacht hatte, also den Ausschluß von Philosophie, Mystik, mu‘t a z i l i t i s c h e r Glaubenslehre und sogar einiger Thesen der as ‘aritischen Schule.
Die zweite Reformbewegung suchte hingegen den gereinigten Islam in einer für alle Rechtsschulen und islamische Weltanschauungen aufgeschlosseneren, toleranten, stark religiös fundierten mystischen Haltung, die der islamischen Gesellschaft aus ihrer Trägheit zu einem neuen dynamischen Selbstbewußtsein verhelfen sollte. Diese Bewegung hat man später auch als Liberalismus bezeichnet. Neben den regionalen Reformbewegungen sind die sich auf die gesamtislamische Welt beziehenden
REFORMBEWEGUNGEN
Bewegungen zu verzeichnen. Die absolut bedeutsamste und wirksamste ist die, die islamische Welt ‚.wachrufende Bewegung", die auf Saiyid Djamäl ad-Din, bekannt als al-Afghani (1839—1897), zurückgeht. Folgende inneren und äußeren Anlässe verhalfen dieser Bewegung zu einem weltweiten Erfolg:
1. Die in allen islamischen Ländern verbreitete These: "Der Islam, beziehungsweise seine Starrheit, hat den Fortschritt der islamischen Länder gehemmt." Diese These wurde später als Parole eines gewissen Säkularismus in den islamischen Ländern, vor allem in der Türkei und im Iran benutzt; ein Säkularismus, der im Grunde die Türkei bis jetzt nicht viel weiterbrachte als die anderen islamischen Länder.
2. Die unverhüllten, immer mehr in den islamischen Ländern um sich greifenden, alle Lebensbereiche der Muslime beherrschenden kolonialistischen Interessen, die außerdem die sich zugunsten der Einheimischen anbahnenden lokalen gesellschaftlichen und geistigen Entwicklungen, direkt durch die Kolonialherren oder indirekt durch ihre Vertreter in diesen Ländern, zurückdrängten.
3. Die dazu parallel verlaufenden Tätigkeiten der christlichen Missionare auf der religiösen, gesellschaftlichen und kulturellen Ebene.
Diese und ähnliche Anlässe, die direkt die Unterwerfung des Islam und der Muslime und ihre unvermeidbare politische und wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen bewirkten, haben die Glaubwürdigkeit und den Erfolg der von al-Afghäni zwar nicht erfundenen, aber durch ihn aus-gelösten panislamischen Bewegung garantiert. Das Hauptmotiv war:
Kampf gegen den inneren Zerfall und die äußere Bedrohung der islamischen Länder und der Muslime.
Als Leitfaden sollte — und soll — dazu dienen: die religiöse, gesellschaftliche und politische Reinheit der Zeit Muhammads und der rechtgeleiteten Kalifen; die Kultur — und Machtgröße — der Muslime im 8.—11. Jahrhundert; die traditionellen, von Aberglauben gereinigten Werte; Wiederbelebung gewisser Prinzipien aus der Weltanschauung der Mu‘taziliten, As‘ariten und Schiiten und schließlich die über allen Konfessionen, Schulen, Richtungen, Rassen und Völkern souverän stehende Einheit der um m a. Das islamische Volk als islamische Nation, die sich gegenüber dem begrifflichen Westen als eine andere Einheit behaupten kann, indem sie wie in ihrer Vergangenheit, fußend auf eigenen kulturellen Grundlagen, sich neue Wissenschaften aneignet und am Fortschritt der Welt aktiv teilnimmt.
Diese Bewegung hat in allen islamischen Ländern zahlreiche einflußreiche Anhänger in jedem Sektor gefunden und zu einem erheblichen politischen und gesellschaftlichen Aufschwung in den islamischen Ländern beigetragen. Je nach den Voraussetzungen hat diese Bewegung unter-schiedliche Ausprägungen und Akzentuierungen bekommen. Je nach den Momenten, die man bei dieser Bewegung hervorgehoben hat, hat man sie als Reformismus, Modernismus, Liberalismus, Aktivismus usw. bezeichnet. Die Konservativen waren aber mit den Ergebnissen dieser Bewegung nicht immer zufrieden. Entsprechende regionale Protestwellen sind in allen islamischen Ländern zu verzeichnen. Ihr Motor war, den Islam, gegründet auf dem Koran und den Überlieferungen Muhammads und seiner Genossen, unter Ausschluß aller Entwicklungen, die der Islam nicht in diesem Sinne gemacht hatte, zu schützen. Aus diesem Grunde haben sie je nachdem die Bezeichnung Traditionalisten oder auch Fundamentalisten erhalten. Ein Musterbeispiel hierfür liefert die am besten organisierte und erfolgreichste Bewegung, die "Muslim-Brüder" (a l- i h w ä n a l- m u s l i m ü n )11, entstanden 1928 in Ägypten, heute auch in anderen arabischen und islamischen Ländern verbreitet. Sie haben immer großen Einfluß auf die ägyptische Politik ausgeübt. Unter Nasser erlebten sie größte Unterdrückung, bis hin zur Vernichtung ihrer Ideologien. Heute werden sie in Ägypten geduldet und gelten als eine politische Macht in der islamischen Welt.
Die Machtverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg und das Palästinaproblem gaben Grund für das Aufkommen eines arabischen Nationalismus, was auch ähnliche Gefühle in anderen islamischen Ländern hervorrief. Weder ein Panarabismus — wie dies bei den Umaiyaden der Fall war — noch irgendein anderer Nationalismus ließen sich jedoch mit dem über allen nationalen Grenzen stehenden Islam vereinbaren. Dagegen stand also die allgemein islamische Bewegung in allen ihren Schattierungen und auch der Sozialismus beziehungsweise Marxismus, der seit etwa 1920 in fast allen islamischen Ländern Anhänger gefunden hatte.
Ähnlich steht es mit der damit verbundenen "D j am ä ‘a t - i I s l ä m i", der 1941 in Pakistan gegründeten "Islamischen Gemeinschaft", die nun mit und unter Zia-ul-Haq die Gründung eines islamischen Staates experimentieren.
Beeinflußt von all diesen islamischen, nationalistischen, westlich-orientieren, regionalen und überregionalen Bewegungen bahnte sich wiederum eine allgemeine Bewegung in allen islamischen Ländern an, die bei der Suche nach der eigenen Identität dieser Länder — unabhängig von der Religion — gegen Kolonialismus, Imperialismus. Neokolonialismus und Kapitalismus gerichtet war. Der bekannteste und bis heute in den arabischen Ländern erfolgreichste Versuch ist der so bezeichnete "islamische Sozialismus" gewesen. Je nach der Akzentuierung, daß heißt, wieweit man sich nach dem Koran und den Grundsätzen des Islam und seiner Tradition richten möchte oder wieweit man dabei auf Orientierung am Marxismus (beziehungsweise Sozialismus) in seinen verschiedensten Prägungen Wert legt, ergeben sich verschiedene Formen des islamischen Sozialismus. Musterbeispiele dafür liefern Algerien und Libyen. Während Libyen zum Beispiel die konservativen strengen islamischen Bewegungen für einen islamischen Sozialismus zugrunde legt und sich an islamischen Vorschriften orientierend dem Westen und Osten gegenüber skeptisch verhält, zeigt Algerien eine größere Aufgeschlossenheit für Leistungen der Muslime in der Geschichte des Islam und für die Verdienste des Sozialismus in der nicht-islamischen Welt. Hierfür liefern die Verfassungen der beiden Länder eindeutige Beweise.
Aus all diesen Erfahrungen lernend, scheint die islamische Welt auf der Suche nach ihrer eigenen Identität einen neuen Weg gehen zu wollen. Der sich auf fast 200 Jahre belaufende Kontakt mit dem Westen – mit allen Vor- und Nachteilen - hat die Muslime nicht so weit gebracht, sich als gleichgestellte Partner behaupten zu können. Die Hoffnung, die man im Widerstand gegen diese Ungleichheit in den Sozialismus setzte, konnte ebenso nicht erfüllt werden. Eine theoretische und praktische Rückwendung zum Islam sollte ihnen zur Zurückgewinnung eigener, verlorener Identität verhelfen.
Infolge seiner von allen Begegnungen der letzten 200 Jahre gespeisten Revolution beansprucht das islamische Land Iran (beziehungsweise das iranische Volk) für sich, ein mustergültiges Beispiel dafür zu liefern: Die islamische Weltanschauung, die islamischen Gesellschaftslehren und Rechtssysteme, die Leistungen der Vorfahren sollen als Leitfaden genommen werden, um von neuem die Welt zu begreifen oder sie zu überwinden, ohne von einem oder dem anderen abhängig zu sein und ohne Feindseligkeit gegen diese oder jene Richtung. Wenn dies der Beginn einer neuen, mit Sicherheit am Anfang mit vielen Problemen, Schwierigkeiten und Unsicherheiten verbundenen Bewegung sein soll, so hat die künftige Geschichte den Erfolg oder Mißerfolg einer solchen Bewegung, die sich in allen islamischen Ländern seit einiger Zeit angebahnt hat, zu zeigen. Dabei hängen Erfolge oder Mißerfolge nicht zuletzt von der Art und Weise der Verwirklichung dieser Bewegung in der heutigen Welt ab.
Anmerkungen
1 Dies erfolgt im Koran — wie sonst kaum in einer anderen Urschrift irgendeiner Religion— durch ständige Aufforderung des Menschen zum "NACHDENKEN", "Denken", "Begreifen", "Verstehen", "Einsehen" und dergleichen, vor allem dort, wo es sich darum handelt, auf den geordneten Aufbau der Welt (etwas Theoretisches) aufmerksam zu machen, oder um die Lehre, die man aus der Geschichte vergangener Völker zu ziehen hat (etwas Praktisches), oder um die die Lebensweise regelnden Vorschriften (etwas Gesetzgeberisches).
2 Vgl. A. FalaTURi, Könnte die islamisch-morgenländische Kultur zu einem dem abendländischen Nihilismus ähnelnden Nihilismus führen?, in: Der Islam im Dialog, Islamische Wissenschaftliche Akademie, Köln 1979.
3 Was der Islam von der Politik erwartet und wie er sie in sein Wesen einbezieht, ist nicht eine von Machtsucht geleitete Herrschsucht über die um m a, sondern eine ehrlich der u m m a dienende. In diesem Sinne kommt es konsequenterweise zu einem defensiven oder offensiven Einsatz, wenn die materielle Existenz der u m m a bedroht ist.
4 Gemeint sind die verschiedenen Richtungen der K a l a m - Wissenschaft, d. h. der spekulativen Theologie. Auf die wichtigsten von ihnen, wie die m u ‘t a -z i l i t i s c h e und die a s‘a r i t i s c h e, wird unten hingewiesen.
5 Von politischem Mißbrauch der Mannigfaltigkeit der verschiedenen theologischen und juristischen Schulen oder sogar islamischen Richtungen — z. B. Sunna oder Schia — abgesehen, sind diese alle als verschiedene Erscheinungen und Ausprägungen einer und derselben Tatsache zu verstehen.
Es ist der Wunsch vieler Reformatoren innerhalb der letzten 2 Jahrhunderte gewesen — und ist noch das Bestreben der jetzigen muslimischen Generation —‚ alle aus dieser Vielfalt von Schulen und Richtungen entstandenen gegenseitigen Bekämpfungen zu vergessen, beziehungsweise der Vergangenheit zu überlassen. Jedoch werden sie für eine Weiterentwicklung des Islam über einen sehr viel breiteren Horizont verfügen, wenn sie alle diese Schulen und Richtungen als Ausprägungen und Erscheinungen einer einzigen Tatsache — des Islam — respektieren und dadurch noch mehr für ein interislamisches Verständnis sorgen.
Eine der christlichen Kirche adäquate unantastbare Institution als Machtzentrum der Kleriker, eine der Priesterweihe adäquate Weihe der Theologen oder gar ein Priestertum gibt es im Islam nicht. Jeder — ob Sunnit oder Schiit —‚ der sich die wissenschaftlichen Voraussetzungen und die Fähigkeit erworben hat, selbständig fachmännische religiöse Urteile zu treffen, gilt als Gelehrter, gleichgültig, ob er Berufstheologe ist oder aber einen anderen Beruf ausübt. Den Rang eines solchen Gelehrten schreibt man sogar den Gefährten Muhammads zu, von denen jeder irgendeinen Beruf als Kaufmann oder Bauer usw. hatte, beziehungsweise von denen keiner einzig Berufstheologe gewesen ist.
7 Darüber vermittelt uns z. B. der namenhafte sunnitische Theologe al-Gazali (gest. 1111) — in seinem persischen Werke Kimiyaye Sa‘adat (Elixier der Glückseligkeit) — eine Fülle von Belegen, die die Ansicht und Haltung maßgeblicher sunnitischer Persönlichkeiten aus dem Bereich der islamischen Theologie, Mystik und sogar der juristischen Schulen repräsentieren.
8 Ihre Kampfparole war der Koranvers 49/13: "Ihr Menschen! Wir haben euch geschaffen, (indem wir euch) von einem männlichen und einem weiblichen Wesen (abstammen ließen), und wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr euch (aufgrund der genealogischen Verhältnisse) untereinander kennt. (Bildet euch aber auf eure vornehme Abstammung nicht zu viel ein!) Als der Vornehmste gilt bei Gott derjenige von euch, der am frömmsten ist. Gott weiß Bescheid und ist (über alles) wohl unterrichtet." Dieser Koranvers betont die absolute Gleichheit aller Stämme und Völker (s U ‘u b), weshalb man die Anhänger dieser Richtung (die Gegenspieler der Umaiyaden) Su‘ubiten nannte.
Diejenigen Umaiyaden, die die Endschlacht überlebt hatten, setzten sich nach al-Andalus ab, wo sie ein neues glorreiches islamisches Reich nach dem Modell der Kalifen in Bagdad aufbauten (756—1028). Unter ihnen erlebte Andalus im 10. Jhdt. sein goldenes Zeitalter.
"Eine Ausnahme bildet die Zeit des umaiyadischen Kalifen ‘Umar ibn ‘Abdalaziz (717—720), der, nach der Verwirklichung der koranischen Gerechtigkeitsidee strebend, die Gewalt der Umaiyaden einschränkte und sich für alle unter seinen Vorgängern Unterdrückte — ganz besonders für die Schiiten — einsetzte.
"Die Zuwendung zum Islam und die Rückgewinnung der Reinheit des Islam bedeutet nach ihnen jedoch keineswegs die Ignorierung der wissenschaftlichen Fortschritte, die im Abendland stattgefunden hatten. Im Gegenteil impliziert die Orientierung am wahren Islam zugleich eine obligatorische Beschäftigung mit den modernen Wissenschaften und Technologien und die Vertiefung in sie.