In einigen Städten Deutschlands wird gerufen: „Wir sind das Volk“. Dabei wird das gerufene „Wir“ nicht im verbindenden, sondern im trennenden Sinne gerufen. Also ein „Wir“, was eine Abgrenzung zu „denen“ herstellt. Ein „Wir“ als Kampfparole.
Die Rede von „Wir“ und „Die Anderen“ meint, dass es auf einem Territorium zwei Gruppen gibt – die Deutschen (wir) und die Fremden (die anderen). Eine Art Sehnsucht nach Apartheid.
Wer kennt die Szenen aus Clausnitz nicht, in dem ein Bus mit Flüchtlingen von einer Menge mit den Rufen begrüßt wird: „Wir sind das Volk!“ Dabei ging es der Menge nicht darum zu signalisieren, dass die Flüchtlinge nun auch zum Volk gehörten, sondern genau um das Gegenteil. Es ging der Menge um eine Reviermarkierung. Die Menge hätte genauso rufen können: „Wir waren zuerst da“, oder: „Ihr gehört nicht dazu.“
Auch wenn ein Flüchtling zu diesem „Volk“ dazu gehören möchte und alles tut, was zu tun wäre, um zu diesem „Volk“ zu gehören, er würde dennoch nicht dazu gehören können. Dieses „Wir“ ist ein exklusiver Verein. Niemand darf dazu gehören, der nicht bereits dazu gehört hat. Offenheit gehört nicht zum Wesensmerkmal dieses „Wirs“.
Offenheit soll ein Wesensmerkmal des Abendlandes sein? Wer aber die Muslime wegen ihrer Religion aus diesem ausschließt, verkennt nicht nur die Geschichte des Abendlandes und den muslimischen Einfluss. Er macht aus dem Abendland eine Rasse, oder Religion und erklärt jedem zum Ungläubigen, der nicht dazu gehört, und aufgrund seiner Herkunft nie dazugehören kann. Genauso wie es die Salafisten (Takfiris) tun, vor denen viele das „christlich-jüdische Abendland“ bewahren wollen.
Der Politik- und Islamwissenschaftler Michael Lüders beschreibt in seinem Buch Allahs langer Schatten. Warum wir keine Angst vor dem Islam haben müssen, dass das Abendland ohne seine islamischen Wurzeln nicht denkbar wäre.
Ein rein „christlich-jüdisches Abendland“ gibt es nur in der Fantasie seiner Verfechter. (Michael Lüders)
Lüders geht sogar so weit und meint, dass unsere Gegenwart ohne die islamische Vergangenheit ein Torso wäre und kritisiert jene, die den Islam als mittelalterlich bezeichnen: „Das Verdikt ‚mittelalterlich‘ wird vor allem aus ideologischen Gründen verwendet, um eine Trennung von ‚uns‘ und ‚ihnen‘ zu erlauben […] Diese Argumentation fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen, wenn man die historischen Hintergründe kennt“.
Einige Philosophen haben sich über den Prozess der Identitätsfindung Gedanken gemacht und meinen, dass dieser Prozess grundsätzlich über die Abgrenzung von anderen Identitäten funktioniert. Ihnen zufolge gibt es das Eigene nur, wo es etwas anderes gibt. In Westeuropa ist das andere, das man immer braucht, um sich selbst zu definieren, der Islam geworden. Somit ist die abendländische Debatte über den Islam eigentlich eine Debatte über das Abendland.
Die GIDAs (… gegen die Islamisierung des Abendlandes) nutzen also den Islam als Vehikel für ihre Identitätsfindung. Ohne den Islam gebe es kein „Wir“, welches sich als Volk bezeichnet. So bietet der Islam nicht nur den Muslimen eine Identität, sondern auch den Islamgegnern, da sich die Islamgegner durch ihren Hass auf den Islam eine Identität geben.
Die Islamgegner rotten sich zusammen, um die „Feinde der offenen Gesellschaft“ zu bekämpfen. Dass wer die „Feinde der offenen Gesellschaft“ bekämpft, indem er die eigene kulturelle Offenheit aufgibt, den Kampf bereits verloren hat, kommt nur wenigen in den Sinn.
Islamhass dient vielen in Europa als Weltbild, um ihr Weltbild nicht infrage stellen zu müssen. Das Bühnenstück Die Chinesische Mauer von Max Frisch erzählt, wie der Kaiser die Chinesische Mauer bauen lässt, um die Zukunft zu verhindern, um sein Weltbild nicht infrage stellen zu müssen. Dieser Kaiser hat leider auch heute noch Minister.
Was mich erschreckt ist nicht das Gebrüll der Hasserfüllten, sondern das Schweigen der Vernünftigen. Wenn Menschen in Deutschland die „Wir“ rufen, genau dieses „Wir“ zerstören, dann müssen „Wir“ aufstehen und ein neues „Wir“ definieren. Ein „Wir“ welches nicht der Geburtsort der Großeltern entscheidet wer dazu gehört oder nicht, sondern die Vorstellung von der Gegenwart und der Zukunft unseres gemeinsamen „Wirs“.
Unser „Wir“ kann nicht in eine Vergangenheit führen, die „Wir“ bereits zu kennen glauben, sondern in eine noch weitgehend unbekannte Zukunft. In Deutschland wird der Gedanke vom „Wir“ von der Vergangenheit beherrscht. Doch in unserer heutigen mobilen und globalisierten Welt gibt es wenige mit einer gemeinsamen Vergangenheit. Was existiert, ist die gemeinsame Zukunft. Ganz gleich, woher ein Mensch kommen und wie lange er bleiben mag. Sobald die Zukunft im Vordergrund steht, kommt es nur noch darauf an, dass er jetzt da ist und zum gemeinsamen „Wir“ beiträgt.
Ein „Wir“ darf niemals zur Kampfparole werden. Ein „Wir“, welches Menschengruppen ausschließt, ist kein aufrichtig gemeintes „Wir“. Zum wahren „Wir“ in Deutschland und Europa gehören auch die Muslime, die nicht ausgeschlossen werden dürfen. Oder wie es die Bremer Poetry-Slammerin Julia Engelmann sagt:
Und wer andere abgrenzt, grenzt sich selber ein.
Wer andere schwach macht, glaubt nicht stark zu sein.
[…]
Wir sind das, was uns zusammen hält.
Quelle : offenkundiges.de