Rolle der Religion aus islamischer Sicht
Der Mensch hat sowohl materielle als auch spirituelle Bedürfnisse. Darin sind sich die Religionen und viele Weltanschauungen einig. Im Islam wird der Bogen zwischen den beiden Aspekten sehr eng gespannt. Eine Trennung zwischen Religiösem und Weltlichem ist kaum Möglich. Für einen Menschen, der die höheren Werte anstrebt und im Einklang mit der Schöpfung lebt wird das ganze Universum zur Gebetsstätte und jede Handlung und jede Form des Schaffens sogar jeder Atemzug wird zum Gottesdienst. Ob der Arbeiter, der durch seine schweißtreibende Arbeit den Unterhalt seiner Familie erwirtschaftet oder der Künstler, der den Menschen eine Freude und Bereicherung durch seine Kunstwerke beschert oder der Arbeitgeber oder leitende Angestellte eines Unternehmen, der durch seine erfolgreiche Arbeit das Einkommen vieler Familien sichert, kurz, jeder, der mit lauterer Absicht zum Wohle der Menschheit beiträgt vollzieht Gottesdienst.
Jedes rituelle Gebet und jede spirituelle Übung sowie jede Beschäftigung werden nach ihrem Nutzen für die Gemeinschaft bewertet. Im Koran heißt es: „Sprich: Wahrlich, mein Gebet und mein Gottesdienst, mein Leben und mein Sterben sind Gottes, dem Herrn aller Welten." (6:163) Alle Dimensionen des Menschen, jede Sekunde seines Lebens und jede seiner Handlungen sollten daher den gleichen Bezug zum göttlichen Ursprung haben. (...)
Toleranzgedanke
Wie sieht es nun mit dem Toleranzgedanken im Islam aus?
Wie mehrfach aufgezeigt, gibt es einen Grundkonsens verbindender ethischer Normen. Die äußere Form, d.h. die Rituale und die spezifische Ausprägung der jeweiligen Wege können jedoch sehr unterschiedlich sein und reflektieren manchmal bestimmte kulturelle, geographische und historische Aspekte. Diese Unterschiede werden jedoch im Islam keineswegs negativ bewertet. Im Gegenteil: Die Unterschiede zwischen den verschiedenen ethnischen und kulturellen Gruppen werden als eine Bereicherung für die Menschheit verstanden. Im Koran lesen wir: „O Ihr Menschen, wir haben euch von Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, dass Ihr einander kennen lernt und euch austauschen möchtet. Wahrlich der angesehenste von euch ist vor Gott der, der unter euch der Gerechteste ist." An einer anderen Stelle heißt es: „Und wenn Allah gewollt hätte, hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht." (4:48) Die Zukunft unserer Welt liegt also nicht in einer Vereinheitlichung der Religionen, sondern darin, gemeinsam dem Werteverfall etwas entgegen zu setzen. Eine Gesellschaft, eine Religion oder eine Kultur kann sich nicht abschotten. Der Austausch mit anderen Kulturen und Religionen ist essentiell für ihr Überleben.
Der Schlüssel zu einem friedlichen und fruchtbaren Zusammenleben der Religionen und der Kulturen liegt also zunächst in der Erkenntnis, dass sie sehr vieles verbindet und, dass sie sehr viel voneinander lernen und profitieren können. Dies kann natürlich nur in einem friedlichen und von gegenseitigem Respekt gekennzeichneten Umfeld erfolgen. Der Koran misst diesem Thema sehr viel Bedeutung bei und begnügt sich nicht mit dem bloßen Aufruf zum Dialog mit den anderen Religionen. Darüber hinaus werden die Rahmenbedingungen und Richtlinien für einen erfolgreichen Dialog definiert.
Eine wichtige Voraussetzung für einen fruchtbaren Dialog, ist die echte Bereitschaft vom anderen zu lernen. Der Koran betont diesen Aspekt und fordert die Gläubigen zum Nachdenken und zur Offenheit auf. Vom Menschen als Statthalter Gottes wird erwartet, dass er kritisch beobachtet, hinterfragt, abwägt und nach Alternativen sucht: „... und bringt meinen Dienern eine frohe Botschaft, ihnen, die auf das Wort hören und dem Besten davon folgen." (39:19)
Die Form des Dialogs ist ebenfalls von großer Bedeutung. Damit ein Austausch entstehen kann, müssen die Teilnehmer einander respektieren. Gott befiehlt den Muslimen im Koran: „Und diskutiert mit den Leuten der Schrift nur in der schönsten Form." An anderer Stelle lesen wir: „Rufe zum Pfad deines Herrn herbei mit Weisheit und schöner Ermahnung und führe mit ihnen den besten Dialog."
Die Muslime werden im Koran aufgefordert, im Dialog mit den anderen Religionen immer die Gemeinsamkeiten zu betonen, damit eine gute Grundlage für den Austausch geschaffen wird: „Sprich: O Ihr Leute der Schrift, kommt her zu einem Wort, das gleich ist zwischen uns und euch, dass wir Gott allein dienen, und dass wir nicht einander zu Herren nehmen neben Gott." (3:64) Der interreligiöse Dialog wird auf immer mehr Veranstaltungen praktiziert. Etwa beim evangelischen Kirchentag, oder seit Jahren in Hamburg zwischen dem Islamischen Zentrum, der ev. Kirche, der jüdischen Gemeinde und dem tibetisch buddhistischen Zentrum. Oder auf internationaler Ebene, z.B. beim Parlament der Weltreligionen in Kapstadt.
Als Zeichen des Respekts und der Anerkennung der Authentizität der anderen Religionsgemeinschaften kann der folgende Vers aus dem Koran verstanden werden: „Sie sind nicht gleich. Unter den Leuten der Schrift gibt es eine aufrechte Gemeinschaft. Sie rezitieren die Verse Gottes zu Nachtzeiten, während sie sich niederwerfen. Sie glauben an Gott und an den jüngsten Tag. Sie gebieten das Gute und lehnen das Verwerfliche ab und eilen zu den guten Taten um die wette. Sie gehören wahrlich zu den Rechtschaffenen...." (3:113-114) Darin wird eindrucksvoll aus der Sicht des Islams dokumentiert, dass jeder Mensch, der im Einklang mit seiner Religion lebt und die religiösen Werte respektiert, das Heil erreichen kann. Ein Anspruch auf Exklusivität wird im Islam nicht erhoben. Sura 29 Vers 46 ist ein weiterer Beleg für diese Aussage: „...Sprecht: Wir glauben an das, was uns offenbart wurde und and das, was Euch offenbart wurde. Unser Gott und Euer Gott ist Einer, und wir sind ihm ergebene Bekenner."