Der Mensch hat zwar bei der Begegnung mit seinen Mitmenschen die Solidargemeinschaft notgedrungen akzeptiert und auf diese Weise einen Teil seiner Handlungsfreiheit zur Erhaltung des anderen Teils aufgegeben, doch die bloße Errichtung einer Solidargemeinschaft löst angesichts vorhandenen deutlichen Ungleichgewichtes der geistigen und physischen Kräfte der Individuen keine Probleme. Die Interessengegensätze der Mitglieder eben dieser Gemeinschaft, die eigentlich entsteht, um Konflikte zu vermindern oder sie gar zu lösen, führt zu neuen Konflikten.
Spätestens hier wird die Notwendigkeit einer Reihe gemeinsamer Bestimmungen, die von allen Mitgliedern der Gemeinschaft als selbstverständlich angesehen und respektiert wird, deutlich, denn es müssen sogar bei einem unbedeutenden Handel gewisse Bestimmungen von beiden Seiten als unbestritten respektiert werden, sonst käme er nicht zustande.
Es müssen daher Gesetze unter den Menschen herrschen, die die Gesellschaft davor bewahren, auseinanderzubrechen. Sie müssen die Interessen der Menschen schützen. Und die Schöpfung, die die Rechtleitung der Arten zur Glückseligkeit zum Ziel hat, lässt den Menschen zu einem Gesetz gelangen, das das Glück der Gesellschaft gewährleistet. Der erhabene Gott sagt:
„Aus einem Tropfen hat er ihn geschaffen. Und er setzte ihm sein Maß und Ziel. Hierauf machte er ihm den Weg leicht.“ (80:19-20)
Die Erleichterung des Lebensweges für den Menschen, dem das Gemeinschaftsleben vorbestimmt worden ist, heißt, ihm Gesetze und Bestimmungen zur Verfügung zu stellen.
Vernunft allein reicht nicht aus, den Menschen zum Gesetz hinzuführen
Unabhängig davon, mit welchen Mitteln die Rechtleitung zu Wege gebracht wird und zu welchem Ende sie führt, geschieht sie nur durch die Schöpfung, denn sie schuf den Menschen, setzte ihm die Glückseligkeit zum Ziele und machte die allgemeine Rechtleitung, die auch die Rechtleitung des Menschen umfasst, zum Schöpfungsplan. Es ist also klar, dass es in der Schöpfung an sich keinen Widerspruch und keinen Fehler gibt. Führt eine Ursache nicht zur gewünschten Wirkung oder wird sie fehlgeleitet, so ist der Fehler nicht dieser Ursache anzulasten, sondern dem Wirken anderer Ursachen, die die Wirkung der besagten Ursache aufheben bzw. fehlleiten. Wären die Störungen durch andere Ursachen nicht wirksam, so hätte eine Ursache nicht zwei gegensätzliche und widersprüchliche Wirkungen gehabt bzw. wäre sie nicht fehlgeleitet.
Daraus geht deutlich hervor, dass die Rechtleitung zu einem Konflikt lösenden Gesetz keine Angelegenheit der Vernunft ist, denn gerade die Vernunft ruft den Gegensatz hervor, erzeugt im Menschen die Neigung, seine Mitmenschen in seinen Dienst zu stellen und seine Interessen vollständig zu schützen, wobei er die Solidargemeinschaft nur wegen der auftretenden Störungen notgedrungen akzeptiert. Es ist selbstverständlich, dass in der Schöpfung ein und dieselbe Ursache keine gegensätzlichen Wirkungen – das Hervorbringen und Lösen von Konflikten – zur Folge haben kann.
Zahlreiche Verstöße gegen die geltenden Gesetze werden täglich von den Menschen begangen, die sich dafür verantworten müssen. Bei diesen Menschen wird vorausgesetzt, dass sie mit Vernunft ausgestattet sind, sonst würden sie nicht zur Verantwortung gezogen. Hätte die Vernunft die Menschen zu Konflikt lösenden Gesetzen geleitet und wäre sie von Natur aus gegen die Übertretung der Gesetze gewesen, hätte sie die genannten Verstöße verhindert.
Der wesentliche Faktor dieser Verstöße ist trotz der Vernunft die Tatsache, dass das Gebot der Vernunft zur Akzeptierung der Solidargemeinschaft und ihrer Gesetze aus Zwang und Rücksicht auf die Störungen, die die Handlungsfreiheit verhindern, erfolgt. Treten keine Störungen auf, so gebietet die Vernunft auch keine Rücksichtnahme auf die Solidargemeinschaft.
Gesetzesübertreter sind entweder mächtiger als die Exekutivgewalt und verstoßen gegen die Gesetze, ohne die Folgen befürchten zu müssen, oder stehen wegen der Entfernung, Sicherheit des Standortes oder Fahrlässigkeit der Überwachenden außerhalb der Reichweite der ausführenden Organe, oder sie haben sich Entschuldigungen ausgedacht, um ihre Verstöße legitim erscheinen zu lassen, oder sie nutzen die Hilflosigkeit ihrer Opfer aus, ohne wirkungsvollem Widerstand zu begegnen. In diesen Fällen existiert kein Gebot der Vernunft. Sie schränkt die absolute Freiheit nicht ein und gibt dem Drang, sich andere dienstbar zu machen, freien Lauf.
Die Vernunft kann also zu keiner sozialen Gesetzgebung führen, die die Interessen der Gesellschaft und des Individuums auf gerechte Weise wahrt, weil sie nur dann die Einhaltung der Gesetze in einer gerechten Gesellschaft gebietet, wenn Störungen auftreten, und schweigt und das Gegenteil gebietet, wenn trotz absoluter Freiheit keine Störungen wahrzunehmen sind. Der erhabene Gott sagt:
„Wahrlich, der Mensch wird aufsässig, wenn er sich in Reichtum (unabhängig) sieht.“ (96:7)
Eine dieser Unabhängigkeiten ist, frei zu sein von der gegenseitigen Hilfe und der Wahrung der Interessen anderer Menschen.
source : الشیعه