Herr Kaymakci, haben Sie auf dem Weg zu Ihrer Karriere als Rechtsanwalt je gegen Widerstände wegen ihrer türkischen Wurzeln ankämpfen müssen?
ÜNAL KAYMAKCI: Nein. So etwas gab es nie. Frankfurt ist eine weltoffene und liberale Stadt. Jedoch haben es Frauen mitunter schwerer. So hat meine Frau als Trägerin eines Kopftuches jahrelang keine Stelle in ihrem erlernten Beruf als Hebamme bekommen, obschon es einen großen Bedarf gab. Als unsere Kinder aus dem Gröbsten heraus waren, hat sie zusätzlich Sozialarbeit studiert und arbeitet heute als Sozialarbeiterin in einem Jugendcafé.
Ihr Bildungsweg aber verlief reibungslos?
KAYMAKCI: Ich hatte überwiegend gute Lehrer, die mich unterstützten. Und als selbstständiger Anwalt erlebe ich keine Ressentiments, eher schon in der religiösen Gemeinschaft. Bevor wir mit unserer Gemeinde unsere Moschee in Hausen zu bauen begonnen hatten, gab es dort bekanntlich heftige Widerstände von Teilen der Bevölkerung, da traten auch Vorurteile offen zutage. In Hausen hat sich die Lage längst entspannt, aber an vielen anderen Orten Deutschlands nehmen teilweise die Konflikte zu.
Was meinen Sie?
KAYMAKCI: Es gibt leider regelmäßig Brandanschläge auf Moscheen, Kopftuchträgerinnen werden vielerorts diskriminiert, die politische Debatte um Islam und Islamismus wird oft unsachlich geführt und ist geprägt von verallgemeinernden Vorwürfen. Als stellvertretender Vorsitzender der Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen muss ich mich damit auseinandersetzen – persönlich erlebe ich das nicht.
Haben Ihre Eltern Sie unterstützt?
KAYMAKCI: Absolut. Mein Vater war Arbeiter bei der Bahn, meine Mutter Kassiererin. Sie wollten, dass es uns vier Kindern mal besser gehen sollte als ihnen. Also haben sie auf Bildung sehr viel Wert gelegt. Meine Eltern stammen aus Anatolien, mein Vater war Analphabet, weil es seinerzeit keine Schule in seinem Dorf gab. Eigentlich hatten sie irgendwann wieder zurückkehren wollen, aber weil meine Geschwister und ich erfolgreich in der Schule waren, sind sie mit uns hier geblieben.
Ihre Eltern haben Ihnen vorgelebt, was es bedeutet, sich in eine Gesellschaft zu integrieren?
KAYMAKCI: Sie waren stets rechtstreue und rechtschaffene Menschen; sie haben wie die meisten der ersten Zuwanderergeneration ihren Beitrag für diese Gesellschaft geleistet und auch von ihr profitiert. Es war ihnen aber immer auch wichtig, dass wir unsere Identität als Muslime bewahren.
Fiel Ihnen das schwer?
KAYMAKCI: Nein, gar nicht.
Warum fällt es immer mehr jungen Muslimen so schwer, beides zu vereinen: den Glauben und die Werte der westlichen Gesellschaft?
KAYMAKCI: Wir haben es jahrzehntelang verpasst, uns als Einwanderungsgesellschaft zu begreifen. Es gab lange Zeit keine Signale an die Zuwanderer, ein Teil der Gesellschaft zu sein, auch nicht an deren hier geborene Kinder. Erst mit Rot-Grün wurde die Einbürgerung erleichtert, seither hat sich das Denken der Gesellschaft erheblich gewandelt. Mittlerweile sind sich ja alle Parteien einig, dass wir mehr Einwanderung brauchen, vor allem mehr qualifizierte, weil unser Sozialstaat und unsere Wirtschaft diese Leute brauchen.
Aber das Beispiel Ihrer Eltern zeigt, dass man auch selbst einen Beitrag leisten muss.
KAYMAKCI: Selbstverständlich.
Vielleicht mangelt es daran auch zu häufig – und nicht nur an Willkommenskultur.
KAYMAKCI: Das glaube ich nicht. Studien wie Pisa haben gezeigt, dass der Zugang zu Bildung für Menschen aus bildungsfernen Schichten nach wie vor schwierig ist in Deutschland. Das ist kein spezifisches Problem der Migranten, aber in dieser Gruppe ein größeres. Wenn die dann noch stigmatisiert werden, verstärkt das den Konflikt. Insbesondere seit dem 11. September 2001 hat der Islam in Deutschland ein Image-Problem, das spüren wir ganz stark. Früher war man der Türke oder der Araber, heute ist man der Muslim und damit immer in gewisser Weise verdächtig. Das wirkt auf Jugendliche. Deshalb muss die Gesellschaft diesen Jugendlichen deutlich machen: Ihr seid hier willkommen, wir brauchen euch. Diese Signale werden nun stärker gesetzt; in den Medien, in der Politik – auch in Zusammenarbeit mit den islamischen Verbänden. Es hat sich, wie gesagt, im letzten Jahrzehnt einiges verbessert.
Wenn vieles besser geworden ist, wie erklären Sie sich dann die zunehmende Abgrenzung und Radikalisierung in der muslimischen Gemeinschaft?
KAYMAKCI: Das hat ein Bündel von Ursachen. Mit Blick auf die Muslime muss ich sagen: Es gibt innerhalb des islamischen Spektrums Gruppierungen, die haben ein falsches, pervertiertes und auch banalisierendes Islamverständnis. Diese Gefahr müssen wir als Muslime bekämpfen – religiös und gesellschaftlich.
Wer entscheidet, was ein richtiges und was ein falsches Islamverständnis ist?
KAYMAKCI: Letztlich entscheidet das Gott. Aber es gibt auch in der Bibel ein Zitat, das mir gut gefällt: „An ihren Früchten sollst du sie erkennen.“ Jemand, der mit seinen Taten Hass, Gewalt und Unfrieden stiftet, kann kein gottgefälliges Leben führen.
In den Schwert-Suren heißt es, man dürfe sich verteidigen, wenn man angegriffen wird. Islamisten fühlen sich permanent angegriffen, die kultivieren ihren Opfer-Mythos.
KAYMAKCI: Sich zu wehren, wenn man angegriffen wird, ist nicht nur im Koran Bestandteil der Lehre. Das steht ja sogar im Grundgesetz. Es geht doch darum, ob man Unschuldige angreifen darf, Andersdenkende. Der sogenannte Islamische Staat zum Beispiel verteidigt sich ja nicht, der schlachtet Andersgläubige einfach ab. Das verbietet der Heilige Koran.
Wie problematisch ist ein Glaubenstext, der sich an mehr als eine Milliarde Menschen richtet und extrem verschieden ausgelegt werden kann? Es kann ja nicht jeder studieren, um die historische Lesart zu begreifen.
KAYMAKCI: Jeder Text, auch ein göttlicher, kann missbraucht werden. Wir haben eben keinen Papst, der eine Auslegung vorgibt, und so können radikale Gruppen ihren Extremismus durch eine banale ideologisch verbrämte Theologie versuchen zu rechtfertigen. Die jahrhundertealten traditionellen religiösen Werte des muslimischen Mainstreams in der Welt sind dadurch aber nicht gefährdet. Andererseits halte ich gerade den Salafismus in Deutschland eher für eine Jugendbewegung – selbst die jungen Erwachsenen, die sich dem IS anschließen, um zu kämpfen, gehören dazu. Und da sind auch Deutschstämmige drunter.
Warum gibt es in den Moscheen keine Jugendarbeit?
KAYMAKCI: In den Moscheen wird fast nur ehrenamtlich gearbeitet, da haben wir Nachholbedarf. Die soziale Arbeit in unseren Vereinen müsste professionalisiert, die Zusammenarbeit mit Jugendämtern intensiviert werden. Das alles wird gerade diskutiert, es wird ja auch über einen muslimischen Wohlfahrtsverband nachgedacht.
Aktuell machen Sie also nichts, wenn Sie einen Jugendlichen abdriften sehen?
KAYMAKCI: Die Radikalisierung findet ja außerhalb der Moscheen statt. Da haben wir sehr wenig Einfluss darauf. Die in den muslimischen Gemeinden aufwachsenden Jugendlichen sind in ihrem Glauben gefestigt und sehr selten für die Ideologien von Rattenfängern empfänglich. Sorgen machen müssen wir uns vielmehr um labile entwurzelte Jugendliche, die ohne religiöse Bildung aufwachsen und irgendwann, gar in Lebens- oder Sinnkrisen, nach einfachen Antworten suchen. Die fühlen sie sich dann natürlich gut, wenn eine Gruppe kommt und sagt: Du bist nicht zweitklassig, du gehörst zu den Besten, zu den Soldaten Gottes, dir ist das Paradies versprochen, die anderen sind die Ungläubigen.
Genau deshalb verwundert es ja, dass die Moscheevereine dem nach wie vor nichts entgegensetzen.
KAYMAKCI: Weil wir wirklich keinen Kontakt zu diesen Jugendlichen haben. Die sozialisieren sich selbst religiös, durch das Internet, in Peergroups. Die Salafisten haben es verstanden, das Internet zu nutzen. Und sie sprechen Deutsch, das ist ganz wichtig.
Sie sprechen die Sprache der Jugendlichen.
KAYMAKCI: Weil sie selbst gerade erst der Jugend entwachsen sind. Die Imame in den Moscheen sind älter, traditioneller, und sie sprechen oft kein oder nicht genug Deutsch. Deshalb brauchen wir Imame, die in Deutschland sozialisiert sind, die wissen, wie unsere Gesellschaft funktioniert. So könnten wir besser auch an die Moschee-fernen Jugendlichen herankommen.
Wie überprüfen Sie denn in Ihrer Gemeinde, wie ein Imam zu den Grundwerten unserer Gesellschaft steht?
KAYMAKCI: Wir haben keinen Generalverdacht, dass Imame im Widerspruch zu unserer Verfassung stehen könnten. Bei jemandem, der zu uns kommt, setzten wir das voraus, wir überprüfen das nicht.
Das klingt naiv.
KAYMAKCI: Nein, es ist die Normalität. Es ist aber unbestritten, dass es auch Moscheen gibt, in denen die Mitglieder nicht gerade dazu motiviert werden, sich als Teil der Gesellschaft zu verstehen. Wir haben dieses Problem nicht.
Vor fünf Jahren gab es Streit wegen Ihres Imams.
KAYMAKCI: Es ging dabei nicht um seine Haltung zur Verfassung, sondern um unbedachte Äußerungen gegenüber dem Staat Israel.
Diskutieren Sie in der Islamischen Religionsgemeinschaft über Hassprediger?
KAYMAKCI: Es gibt sogenannte „Hassprediger“, aber die sind genauso wie die Salafisten eine extrem kleine Minderheit. Auf der anderen Seite gibt es aber in unserer Gesellschaft leider viel mehr Menschen, die Hass gegenüber dem Islam und allem vermeintlich Fremden predigen und es dabei auch nicht bei Worten belassen. Pegida und die Alternative für Deutschland bilden dabei noch nicht mal die Speerspitze.
Jetzt betonen Sie zu Recht die Gefahr, die von wachsenden radikal-antiislamischen Minderheiten ausgeht. Bezogen auf radikale Muslime und Hassprediger aber betonen Sie, dass sie nur eine extreme Minderheit seien. Dieses Argumentationsmuster lähmt die Debatte.
KAYMAKCI: Ich bin wegen dieser Minderheit auch in Sorge. Aber man muss betonen, dass wir von Minderheiten reden, sonst könnte der Eindruck entstehen, die Mehrheit der Gemeinden sei radikal.
Das behauptet doch niemand.
KAYMAKCI: Ein großer Teil der Deutschen hat Angst vor dem Islam, das zeigen viele Umfragen.
Vor dem Islamismus – das zeigen die Umfragen.
KAYMAKCI: Die Menschen differenzieren oft nicht. Sie wissen oft zu wenig über den theologisch fundierten, friedlichen Alltagsislam, wie er in den allermeisten Moscheen praktiziert wird.
Dass die friedliche Mehrheit der Muslime in Deutschland nach den Terror in Paris nicht auf die Straße gegangen ist, hat viele irritiert.
KAYMAKCI: Warum hätten sie auf die Straße gehen sollen?
Weil im Namen ihres Glaubens Menschen ermordet werden.
KAYMAKCI: Menschen demonstrieren sehr selten, um sich von etwas abzugrenzen. Nehmen sie als Beispiel nur mal die NSU-Anschläge – ich meine das nicht als Retourkutsche. Warum hätte die deutsche Mehrheitsgesellschaft dagegen demonstrieren sollen, wenn sie die Morde an Türken und einem Griechen ohnehin nicht als ein deutsches Merkmal identifiziert? Genauso identifizieren die Muslime den Terror von extremistischen Muslimen irgendwo auf der Welt nicht als islamisches Merkmal. Wir haben die Morde in Paris aufs schärfste verurteilt, obwohl wir die Karikaturen von Charlie Hebdo durchaus als verletzend empfunden haben. Die Mörder von Paris haben unseren Propheten Mohammed – Friede sei mit ihm und seiner Familie – viel mehr beleidigt, als es die Karikaturisten je vermochten.
Bei den Demonstrationen gegen Israel bekennen viele Muslime deutlich Farbe – zum Teil voller Hass und Schmähungen gegen Juden.
KAYMAKCI: Die ich verurteile.
Sie haben die Israelis auch als „Kindermörder“ bezeichnet, weswegen die jüdischen Vertreter des Frankfurter Rats der Religionen den Rat verlassen haben.
KAYMAKCI: Da bin ich falsch zitiert worden. Ich habe bezogen auf einen früheren Krieg in Gaza gesagt, dass dort Tausende Kinder umgebracht worden seien. Und das entspricht den Tatsachen.
Israel wird permanent mit Raketen beschossen.
KAYMAKCI: Es kämpfen dort nicht zwei gleich starke und paritätische Parteien gegeneinander. Israel als Besatzer und militärisch hochgerüsteter Staat hat eine Verantwortung, der es nicht gerecht wird. Stattdessen bricht es seit Jahrzehnten sorglos die elementarsten Menschenrechte der Palästinenser, die übrigens nicht nur aus Muslimen, sondern auch aus Christen bestehen. Dass in einem solchen menschenverachtenden Dauerkonflikt nicht nur Friedenstauben unter den Unterdrückten erwachsen, ist nicht verwunderlich. Und dass sich da viele Muslime auch in Deutschland klar positionieren, hat auch seine Gründe: Dieser Konflikt betrifft uns alle und dauert nun schon seit Jahrzehnten an. Mit Terror im Namen der islamischen Religion, um es noch einmal deutlich zu sagen, haben die Muslime in Deutschland aber nichts zu tun. Im Übrigen sind die Muslime selbst die größte Opfergruppe dieser Barbaren. Warum sollten wir jedes Mal auf die Straße gehen, wenn unter den 1,5 Milliarden Muslimen irgendwo auf der Welt wieder ein Anschlag passiert, auch wenn wir selbst jedes Mal fassungslos sind.
Weil es radikalen Jugendlichen zeigen würde, dass sie auf einem Irrweg sind.
KAYMAKCI: Wir alle sind gefordert, ihnen das im Alltag zu zeigen. Wir müssen uns hinsichtlich radikalisierter Jugendlicher jeglicher Couleur gemeinsam intensive Gedanken machen, wie wir sie wieder für die Gesellschaft gewinnen können. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
source : abna