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Imame als Stütze für Muslime

Imame als Stütze für Muslime

 Die meisten Menschen tun sich schwer mit psychischen Erkrankungen, auch Muslime. Ein Beinbruch ist zwar schmerzhaft, aber eine klare Sache, eine seelische Erkrankung dagegen zumeist nicht recht fassbar. Die Patienten erkennen keinen Anlass für plötzlich auftretende Panik oder gar Todesängste, und eine Wahnerkrankung oder Schizophrenie wirkt wie eine Botschaft aus einer anderen Welt. Bei Muslimen kommt hinzu, dass der Glaube an die Existenz von Dschinnen, von deren verborgener Welt wir praktisch nichts wissen, geradezu einlädt, deren Einfluss auf die Entstehung psychischer Krankheit z. B. in Form von Besessenheit anzunehmen. Selbiges gilt für Schadenszauber. Hinzu kommt häufig eine gute Portion schlichter Aberglaube. Insgesamt besteht also ein deutlicher Aufklärungsbedarf in der muslimischen Community. Grundwissen über seelische Erkrankungen hilft dabei, die Stigmatisierung von Patienten zu vermeiden, die dann auch leichter in Behandlung kommen und nicht warten, bis gar nichts mehr geht, die Arbeitsstelle verloren oder die Ehe und die Familie ruiniert sind.

Am meisten können in dieser Hinsicht die Imame bewirken, die bekanntlich in allen möglichen Angelegenheiten um Rat gefragt werden und zu denen die Gläubigen Vertrauen haben. Wir arbeiten immer wieder mit einzelnen Imamen zusammen und führen auch Seminare für diese durch, die dann von den Gemeinschaften organisiert werden.

IslamiQ: Können Sie aus ihrer Erfahrung als muslimischer Psychotherapeut spezifische Probleme und Sorgen muslimischer Patienten benennen?

Rüschoff: Muslime haben letztlich dieselben Probleme wie alle Menschen auch – Ängste, Depressionen, Süchte usw., nur spielen sich diese in einem islamischen und in vielen Fällen auch kulturell anders geprägten Umfeld ab oder werden davon beeinflusst. Ein selbstunsicherer oder eifersüchtiger muslimischer Ehemann wird die Kontrolle seiner Frau religiös begründen, Eltern ersticken heimische Diskussionen mit dem Hinweis auf den geschuldeten Gehorsam der Kinder und dem Vorwurf der Respektlosigkeit oder viele Schwiegermütter drangsalieren ihre Schwiegertöchter mit religiösen Argumenten und halten ihre Söhne in manchmal extremer emotionaler Abhängigkeit oder spielen die Eheleute gegeneinander aus. In vielen Fällen machen Muslime für ihre seelischen Probleme auch den Einfluss von Dschinnen, Zauber oder den Bösen Blick verantwortlich und trauen sich erst bei uns davon zu sprechen, weil sie wissen, dass derlei Auffassungen gesellschaftlich schnell als verrückt gelten.

Die Konfliktfelder der meisten unserer muslimischen Patienten liegen in den Familien oder in der beruflichen Situation. Das ist auch wenig verwunderlich wenn man bedenkt, dass hier die intensivsten Bindungen bestehen und dadurch auch die Verletzlichkeit am größten ist.

Insgesamt sind allerdings die kulturellen Einflüsse stärker als die religiösen. Patienten aus vergleichbaren sozialen Schichten z. B. rund ums Mittelmeer sind sich bzgl. ihrer Konflikte sehr ähnlich, da unterscheiden sich katholische Sizilianer, muslimische Marokkaner, orthodoxe Griechen und koptische Ägypter nicht sehr.

IslamiQ: Welche Rolle spielt Religion bei der Therapie von muslimischen Patienten? Stellt Religion ein Hemmnis oder vielmehr eine Ressource dar?

Rüschoff: Im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung spielt die Religion im Leben von Muslimen eine sehr unterschiedliche Rolle, manchmal eben auch gar keine. Die Patienten bestimmen daher auch den Stellenwert der Religion in der Therapie. Der ist bei unseren Patienten zwar zumeist sehr hoch, das liegt aber nicht an der Anfälligkeit religiöser Menschen für psychische Konflikte, sondern an der Auswahl unserer Patienten – man kennt uns inzwischen, da wir auch Fortbildungen durchführen, Vorträge halten oder medial präsent sind.

Religion stellt grundsätzlich eine Ressource dar, da sie einen Sinnhorizont vermittelt, der bei der Bewältigung von Problemen sehr wichtig und hilfreich ist. So ist z. B. die Zusage Gottes im Koran, keiner Seele mehr aufzuladen als sie zu tragen vermag, ungeheuer hilfreich. Auch Fragen wie „Was will Gott von mir?“ oder „Warum prüft er mich?“ können Sinnhorizonte eröffnen.

Eine verzerrt oder neurotisch gelebte Religion kann aber auch ein Hemmnis sein. Ein nur strafender oder gar rachsüchtig erlebter Gott macht Angst, löst Wut und damit gleichzeitig ein schlechtes Gewissen aus. Die erste Panikattacke beim Tawâf an der Kaaba oder regelmäßige Angstzustände im Gebet sagen psychologisch viel über das Verhältnis des Einzelnen zu Gott aus, was auch nicht verwunderlich ist, da der Islam ja nicht im luftleeren Raum, sondern in den Herzen und Seelen der Muslime gelebt wird. Die ersten Allmachtserfahrungen machen kleine Kinder mit ihren Eltern und greifen natürlich später darauf zurück, wenn sie von der Allmacht Allahs hören. Da ist schon entscheidend, ob die Eltern emotionale Sicherheit und Stabilität vermittelt und sich gekümmert haben, ob sie das kleine Kind wertgeschätzt und gelobt oder überwiegend kritisiert oder entmutigt oder sich gar auf seine Kosten amüsiert oder mit Liebesentzug Gehorsam eingefordert haben. Die Beziehung zu Gott ist aus psychologischer Perspektive nicht viel anders als andere Beziehungen.

Daher liegen hier auch die Chancen für die Religiosität: Werden in der Therapie die Beziehungen zu den Menschen angstfreier und vertrauensvoller, verbessert sich das Selbstwertgefühl, bin ich meinen inneren Konflikten und meinen Emotionen nicht mehr so ausgeliefert, verdamme ich mich nicht mehr nur, dann wird auch mein Verhältnis zu Allah entspannter, ich bete nicht mehr nur aus Angst vor Strafe oder vermeide es gar, weil ich nicht hundertprozentig perfekt sein kann, aber meine, es sein zu müssen, damit Gott mich annimmt usw.

IslamiQ: Wie wichtig sind Kenntnisse über den Islam bei der Behandlung muslimischer Patienten?

Rüschoff: Kenntnisse über den Islam sind bei der Behandlung muslimischer Patienten natürlich hilfreich und wertvoll. Andererseits spielt die Religion im Leben der Patienten nicht immer die Rolle, wie wir das manchmal gerne glauben. Und kommt erst ein Patient aus einem abgelegenen Tal Afghanistans in die Praxis, evtl. als traumatisierter Flüchtling, helfen mir meine islamischen Kenntnisse auch nicht mehr weiter. Dann stehen Sprachprobleme, Wissen um die aufenthaltsrechtliche Situation und die Bedingungen seines sozialen Umfeldes in der Heimat im Vordergrund. In diesem Fall ist die sog. Interkulturelle Kompetenz gefragt, und dazu müssen Sie natürlich kein Muslim sein.

Andererseits ist es in der therapeutischen Begegnung ein erheblicher Vorteil, wenn Patient und Therapeut dieselbe Auffassung von der Rolle des Menschen, seine Situation in dieser Welt, den Sinn und Zweck seiner Existenz usw. haben. Sinnhorizonte und die oben genannte Frage „Was will Gott von mir“? können Sie bei muslimischen Patienten als praktizierender Muslim sehr viel überzeugender und effektiver ausloten.

Da der Islam als Lebensweise deutlich im Alltag verankert ist, kommen in der Therapie immer wieder auch Fragen zur islamischen Religionspraxis auf, auch hier ist es leichter, wenn der Therapeut ein Muslim ist und der Patient ihm vertrauen kann, dass seine Versuche, sein Verhalten zu ändern, auch islamisch in Ordnung gehen. Auch kann man als muslimischer Therapeut ermutigende Beispiele aus der Sira bringen, die als Vorbilder für die Patienten geeignet sind, das betrifft besonders das wertschätzende Verhalten des Propheten gegenüber seinen Frauen, die er z.B. immer wieder um Rat gefragt hat.

Alles in Allem ist es also für einen Muslim mit einem muslimischen Therapeuten schon leichter. Da es aber leider nur sehr wenige davon gibt, rate ich entfernter lebenden Patienten zumeist, sich den besten Therapeuten zu suchen, den sie vor Ort finden können, auch wenn er kein Muslim ist. Was er für die Therapie über den Islam wissen muss, können sie ihm schon erzählen, und ein guter Therapeut wird seine Patienten immer respektieren und dort abholen, wo sie stehen und ihnen nicht seine Lösungen aufdrängen.

IslamiQ: Sind bestimmte Gruppen unter Muslimen (Frauen, Männer, Jugendliche etc.) besonders häufig von psychischen Erkrankungen oder Problemen betroffen?

Rüschoff: Psychische Erkrankungen im eigentlichen Sinne kommen bei allen Muslimen gleich häufig vor. Es stellt sich eher die Frage, wie schnell oder häufig sie in Therapie kommen oder sich auch anderswo Rat holen. Und da scheint es, wie in der übrigen Bevölkerung auch, geschlechtsspezifische Unterschiede zu geben. Frauen tun sich oft leichter, von sich zu erzählen, dürfen auch eher emotional sein, während Männer häufig in der Rolle eines „echten Kerls“, der alles geregelt bekommt, keine Schwächen zeigen darf und sich den harten Anforderungen des Lebens stellt, sehr viel länger brauchen, bis sie sich einem Therapeuten anvertrauen. So kommt es, dass ungefähr nur 10-20 % unserer Patienten Männer sind, obwohl auch sie stark unter belastenden Rollenzwängen, Diskriminierungserfahrungen und familiären Konflikten leiden.

IslamiQ: Wie wirkt sich die zunehmende Islamfeindlichkeit und Ressentiments gegenüber dem Islam auf muslimische Patienten aus?

Rüschoff: Islamfeindlichkeit und Ressentiments sind in den Therapien häufig Themen, wenn es um die Konflikte am Arbeitsplatz geht, insbesondere für Frauen, die ein Kopftuch tragen. Ihre Mütter, die als Putzfrau arbeiteten, waren mit ihrem Kopftuch kein Problem, wenn ihre Töchter mit Kopftuch aber Anwälte, Lehrer oder Ärzte sind, werden sie plötzlich zur Gefahr. Von einem katholischen Scheidungsrichter nimmt man problemlos an, dass er seine persönliche Überzeugung von seiner beruflichen Tätigkeit trennen kann, aber einer Muslimin mit Kopftuch auf der Richterbank traut man das nicht zu.

Anderssein wird in Deutschland sehr schnell als Bedrohung und nicht als Bereicherung mit interessantem Neuen erlebt. Das sagt nichts über die Gefährlichkeit der Muslime aber viel über die Unsicherheiten in der Mehrheitsgesellschaft aus. Sie können als Betroffene/r daran nichts ändern – und diese Machtlosigkeit, egal wie man sich bemüht („Du bist ja in Ordnung Ayse, aber der Islam, der ist ganz gefährlich!“), das macht mit den Menschen schon viel, auch in den Therapien wird das deutlich. Machtlos zu erleben, wie mein Heiligstes politisch instrumentalisiert, dämonisiert und gar verspottet wird, ist schmerzhaft und führt zum Rückzug, allein schon aus Selbstschutz. Die Menschen werden dünnhäutiger, andere, persönliche Konflikte brechen schneller durch, weil es einfach zu viel wird.

Islamfeindlichkeit und Ressentiments finden sich bis in die Mitte der Gesellschaft hinein und machen natürlich auch vor Therapeutenzimmern nicht halt. So berichten Patienten immer wieder von Kollegen, die ständig auf der Religion herumreiten und ihnen zur Lösung ihrer Probleme mehr Anpassung an die sozialen Verhältnisse empfehlen (Freund/in haben, mit Partner leben, Tanzen gehen, Teilnahme am gemischten Schulschwimmen usw.), was sie aber für sich ablehnen und ihnen das Gefühl gibt, dass der Therapeut sie auch nach einem halben Jahr Therapie eigentlich gar nicht kennt und auch nicht versteht. Diese Kollegen sind wahrscheinlich die Ausnahme, beeinträchtigen aber den Ruf der ganzen Zunft und schrecken muslimische Patienten zusätzlich ab, sich therapeutische Hilfe zu holen.

IslamiQ: Wie lässt sich beispielsweise die Radikalisierung von muslimischen Jugendlichen begründen und kontextualisieren?

Rüschoff: Bei der Radikalisierung muslimischer Jugendlicher handelt es sich um ein komplexes Phänomen, bei dem die Religion nur ein Element ist und eher als Vehikel für persönliche und soziale Anerkennung und Akzeptanz dient. Hinzu kommt eine pubertäre Lust an ein wenig Provokation und bei vielen das Gefühl und die erlebte Tatsache, gesellschaftlich benachteiligt und letztlich chancenlos zu sein, aber natürlich auch überhöhte Ansprüche und die Ablenkung von eigenem Versagen durch Schuldzuweisung an die Gesellschaft. Islamische Gemeinschaften, Moscheen und Initiativen, die sich um gefährdete Jugendliche kümmern, werden von Gesellschaft, Politik und irgendwelchen „Islamexperten“ argwöhnisch beäugt, die völlig unprofessionell alles über einen Kamm scheren und jeden Bart, Strickkäppi und kurze Hose als Ausdruck eines gewaltbereiten Salafismus interpretieren und die Arbeit mit den Jugendlichen stark behindern.

In den 60er Jahren meiner Jugend auf dem Dorf im Münsterland musste ich mir nur die Haare ein wenig über die Ohren wachsen lassen, einen alten Militärparka anziehen oder meine Jeans ausfransen, um „wie ein Gammler“ als Bürgerschreck zu gelten. Heute funktioniert das bestens mit einem langen Bart und Strickkäppi bzw. als Frau mit einem Gesichtsschleier. Und wenn ich die Grünen der 80er Jahre mit heute vergleiche, dann rate ich doch zu mehr Gelassenheit beim Umgang mit dem Thema. Ganz entscheidend ist, dass die Beziehung zu den Jugendlichen nicht abreißt, dass wir unbeirrt dranbleiben, auch wenn das für alle Beteiligten Stress bedeutet. Es sind unser aller Kinder, die uns brauchen, gerade in diesen Jahren des Übergangs zum Erwachsenenalter. Um die wirklich gefährlichen, die allerdings auch ein Produkt unserer Gesellschaft sind, müssen sich natürlich auch unsere Sicherheitsbehörden kümmern, denn von Terrorismus sind alle bedroht, Muslime wie Nichtmuslime.

Das Interview führte Meryam Saidi-Abdessadki.

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