Abstrakte, ethische Grundsätze scheitern nicht selten daran, daß diejenigen, die sie aufstellen, nicht danach leben: Sei es, daß sie die nötige Glaubensstärke nicht besitzen, sei es, daß sie die Menschen zu Handlungen auffordern, deren Erfüllung ihrer existentiellen Bestimmung und ihrer natürlichen Konstitution zuwiderläuft. Moralisches Verhalten kann von der jüngeren Generation und von den kommenden Generationen verlangt werden, wenn ihnen dies mit Worten und Taten vorgelebt wurde und vorgelebt wird. Nicht selten ist die befürchtete geistige Krise der jüngeren Generation im Verhalten der älteren vorprogrammiert.
Wenn der Glaube der jüngeren an die Grundsätze der Älteren gestärkt werden soll, muß mit anschaulichen Beispielen gezeigt werden, wer, wann, wo und mit welchem Erfolg gehandelt hat. Das ist die Intention dieser kleinen Sammlung der Geschichten der Rechtschaffenen . Sie soll zeigen, wie die Rechtschaffenen unserer Glaubensgemeinschaft in ihrem Verhältnis zu ihren Mitmenschen gedacht und gehandelt haben. Mit diesem Büchlein, das in einer leicht erfaßbaren Sprache und Schrift geschrieben worden ist, möchten wir vor allem die jüngeren Leser erreichen.
Der Prophet und die zwei Gruppen
Der Prophet (s.a.s.) betrat einmal die Moschee und wurde auf zwei Gruppen aufmerksam. Beide Gruppen waren beschäftigt: die eine mit Beten und die andere mit dem Lehren und Lernen. Mit Freude beobachtete er beide Gruppen und wandte sich an seine Begleiter: "Beide Gruppen tun Gutes und sind auf dem Weg zur Glückseligkeit. Doch ich bin gekommen, um zu lehren und aufzuklären", sagte er, schloß sich der Gruppe der Lehrenden und Lernenden an und setzte sich zu ihnen. (1)
Ein Mann kam aufgeregt zu Imam Sadiq (a.s.) und sagte: "Beten Sie für mich, damit Gott es mir erleichtert, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, denn ich bin arm und notleidend." Imam Sadiq (a.s.) antwortete, "das werde ich niemals tun."
"Warum wollen Sie nicht für mich beten?", fragte der Mann. Imam Sadiq (a.s.) antwortete: "Weil Gott uns zu diesem Zweck einen anderen Weg gewiesen hat. Er hat befohlen, das tägliche Brot zu suchen und danach zu streben. Du willst aber zu Hause bleiben und das tägliche Brot mit einem Gebet zu dir kommen lassen."(2)
Der Reisegefährte auf der Pilgerfahrt
Ein Mann, der von einer Pilgerfahrt zurückgekehrt war, berichtete Imam Sadiq (a.s.) über diese Reise. Er war besonders voll des Lobes über einen seiner Reisebegleiter: Was für ein vorzüglicher Mensch er doch gewesen sei. Sie seien alle stolz darauf gewesen, solch einen noblen Herrn begleiten zu dürfen. Seine ganze Zeit habe er dem Beten gewidmet. Sobald sie Rast machten, habe er sich zurückgezogen, seinen Gebetsteppich ausgebreitet und weitergebetet. Imam Sadiq (a.s.) fragte: "Und wer hat seine Arbeiten erledigt und sein Tier versorgt?"
Der Mann antwortete: "Wir hatten natürlich die Ehre, diese Arbeiten für ihn zu erledigen. Er war so mit seinen heiligen Pflichten beschäftigt, daß er sich nicht um diese Dinge kümmern konnte."
-"Dann ist jeder von euch besser als er", sagte der Imam.
Der Prophet (s.a.s.), seine Gefährten und Helfer stiegen von ihren Reittieren ab, stellten die Lasten auf den Boden und beschlossen, einen Hammel zu schlachten und zuzubereiten. "Ich schlachte den Hammel", sagte einer der Gefährten. "Ich ziehe das Fell ab", sagte ein anderer. "Ich übernehme das Kochen", sagte der dritte. "Dann übernehme ich das Holzsammeln in der Wüste", sagte der Prophet. "Bemüht Euch nicht, Gesandter Gottes, macht es Euch gemütlich. Es ist uns eine Ehre, diese Arbeiten zu erledigen", sagten die Begleiter. "Ich weiß, daß ihr das für mich tun wollt, doch Gott sieht es nicht gerne, wenn eines seiner Geschöpfe eine Sonderstellung unter seinen Freunden beansprucht", sagte der Prophet, ging in die Wüste und sammelte Disteln und Grashalme.(3)
Eine Karawane auf der Pilgerfahrt
Eine aus Muslimen bestehende Karawane befand sich auf einer Pilgerfahrt nach Mekka. Als sie in Medina ankam, legte sie einige Tage Rast ein und setzte dann die Reise in Richtung Mekka fort. An einem Rastplatz zwischen Mekka und Medina begegneten die Reisenden einem Mann, den sie kannten. Während sich dieser Mann mit ihnen unterhielt, wurde er auf einen tugendhaft aussehenden Mann aufmerksam, der mit Freude und Eifer den Reisenden diente und die Arbeiten für sie erledigte. Er erkannte diesen auf den ersten Blick und fragte verwundert die Reisenden: "Kennt ihr diesen Mann, der euch dient?"
Sie antworteten: "Nein, wir kennen ihn nicht. Er schloß sich unserer Karawane in Medina an. Er ist ein rechtschaffener, gottesfürchtiger und tugendhafter Mann. Wir haben ihn nicht gebeten, etwas für uns zu tun. Aber er möchte sich sehr gerne nützlich machen und uns anderen bei der Arbeit behilflich sein."
- "Ich sehe, ihr kennt ihn nicht, sonst wäret ihr nicht so dreist, ihn wie einen Diener eure Arbeiten tun zu lassen."
- "Wer ist denn diese Person?"
- "Er ist Ali, Sohn des Husayn."(4)
Die Versammelten sprangen erregt auf und wollten als Zeichen der Entschuldigung dem Imam die Hand küssen. Sie beschwerten sich: "Was tun Sie uns da an? Was wäre, wenn wir uns Ihnen gegenüber ungebührlich benommen hätten? Dann hätten wir eine große Schuld auf uns geladen." Der Imam sagte: "Ich habe euch absichtlich als meine Reisegefährten ausgesucht, weil ihr mich nicht kennt. Leute, die mich kennen, lassen aus Liebe zum Gesandten Gottes nicht zu, daß ich auf Reisen eine Arbeit übernehme und ihnen diene. Daher suche ich mir Mitreisende aus, die mich nicht kennen und denen ich mich nicht vorstelle, so daß mir das Glück zuteil wird, meinen Gefährten zu dienen."(5)
Der Muslim und der Anhänger der Schriftreligion
Kufa war einst das Zentrum des Islamischen Staates. Das ganze Islamische Reich außer Syrien blickte auf diese Stadt und war auf die Anweisungen und Entscheidungen gespannt, die von dort kamen.
Auf einem Weg außerhalb dieser Stadt begegneten sich zwei Männer, ein Muslim und ein Anhänger der Buchreligion (also z.B. Jude, Christ oder Zoroastrier). Sie fragten einander nach ihrem Reiseziel. Der Muslim war auf dem Weg nach Kufa, der Anhänger der Buchreligion wollte zu einem anderen nahegelegenen Ort gehen. Sie beschlossen, den gemeinsamen Teil des Weges einander zu begleiten und die Zeit in Gesellschaft zu verbringen. Die gemeinsame Strecke legten sie im herzlichen Gespräch zurück. An der Kreuzung, wo sich ihre Wege trennten, bemerkte der Anhänger der Buchreligion verwundert, daß sein muslimischer Weggefährte nicht den Weg nach Kufa einschlug, sondern mit ihm in die andere Richtung weiterging. "Wolltest du denn nicht nach Kufa?", fragte er, "warum gehst du dann in diese Richtung? Sie führt nicht nach Kufa." Der Muslim antwortete: "Ich weiß. Ich möchte dich noch ein Stück begleiten. Unser Prophet hat gesagt: ‘Wenn sich zwei Menschen auf dem Weg Gesellschaft leisten, sind sie einander zu Dank verpflichtet’. Nun bin ich dir Dank schuldig und möchte dich daher einige Schritte begleiten. Dann werde ich natürlich meinen Weg weitergehen".
"Zweifellos hat euer Prophet seine Macht und seinen Einfluß unter den Menschen und die rasche Verbreitung seiner Religion in der Welt dieser moralischen Haltung zu verdanken", sagte der Anhänger der Schriftreligion .
Als der Mann erfuhr, daß sein muslimischer Weggefährte der damalige Khalif Ali Ibn Abutalib (a.s.) war, empfand er große Bewunderung für ihn. Es dauerte nicht lange, bis dieser Mann Muslim wurde und zu den überzeugten und opferbereiten Gefährten Imam Alis (a.s.) gehörte.(6)
Auf dem Wege nach Kufa kam Imam Ali (a.s.) in der Stadt Anwar an, deren Bevölkerung Perser waren. Die persischen Honoratioren und die Bauern waren erfreut, das ihr geliebter Khalif durch die Stadt zog. Sie bereiteten ihm einen herzlichen Empfang. Als sich Imam Alis (a.s.) Pferd in Bewegung setzte, liefen die Leute vor dem Pferd her. Imam Ali (a.s.) rief sie zu sich und fragte: "Warum lauft ihr so? Was bedeutet das?" Die Leute antworteten: "Das ist eine Art Hochachtung, die wir unseren Herrschern und verehrten Persönlichkeiten entgegenbringen, eine Art Sitte und Höflichkeitsbezeigung, die bei uns so üblich ist." Imam Ali (a.s.) sagte daraufhin: "Das macht euch in dieser Welt zu schaffen und beschert euch Unglück in der anderen Welt. Unterlaßt alles, was euch erniedrigt. Im übrigen, was haben diese Leute davon, wenn ihr so etwas tut?"(7)
Ein Mann aus der Wüste kam nach Medina, ging zu dem Propheten (s.a.s.) und bat ihn um einen guten Rat. "Zügle deinen Zorn", sagte der Prophet und schwieg. Der Mann kehrte zu seinem Stamm zurück. Dort erfuhr er, daß sich in seiner Abwesenheit ein wichtiger Vorfall ereignet hatte: Junge Männer seines Stammes hatten das Eigentum eines anderen Stammes geraubt, und die Angehörigen des betreffenden Stammes hatten sich dafür gerächt. Allmählich war eine ernste Lage entstanden. Beide Stämme hatten sich auf einen Krieg vorbereitet und waren in Stellung gegangen. Die empörende Nachricht brachte ihn auf. Er nahm seine Waffe, schloß sich dem Kämpfenden seines Stammes an und bekundete seine Bereitschaft mitzumachen.
Doch währenddessen fiel ihm ein, was er in Medina erlebt hatte. Er erinnerte sich an die Worte des Propheten, der ihm geraten hatte, seinen Zorn zu zügeln. "Was hat mich so in Erregung versetzt? Warum habe ich sofort nach der Waffe gegriffen? Weshalb bin ich bereit, zu töten und getötet zu werden? Ist es nicht an der Zeit, jene Worte in die Tat umzusetzen?", überlegte er.
Er trat vor, rief die Anführer der Gegenseite zu sich und fragte: "Warum streiten wir uns? Wenn es darum geht, den Überfall unserer dummen, jungen Männer wiedergutzumachen, bin ich bereit, die Wiedergutmachung aus meinem eigenen Vermögen zu leisten. Das ist kein Grund, aneinanderzugeraten und Blut zu vergießen." Die vernünftigen und nachsichtigen Worte dieses Mannes erweckten in seinen Gegnern das Ehrgefühl. "Da wollen wir dir nicht nachstehen. Wenn es so ist, verzichten wir auf unsere Ansprüche", sagten sie. So kehrten die Kriegsgegner zu ihren Stämmen zurück.(8)