Einleitung
1.1 Der Koran: Zeugnis der Geschichte seiner Zeit
Die Art, in der Muhammad den Koran vortrug, Abschnitt für Abschnitt zu unterschiedlichen Zeiten, wurde von seinen Gegnern als Zeichen seiner Unsicherheit bewertet. Sie haben ihm vorgehalten: "Warum ist ihm der Koran nicht auf einmal als Ganzes herabgesandt worden?"
(25:32). Offensichtlich haben sie dabei an die ihnen wohl bekannten Schriften der Christen und Juden gedacht.
Zwei Gründe nennt der Koran für diese zeitgebundene Vortragsweise: a) "um damit deinem (Muhammads) Herzen Standhaftigkeit zu gewähren" (25:32) und b) "die beste/schönste Erklärung für die Wahrheit zu bringen (25:33). Wie diese Gründe theologisch und/oder religionswissenschaftlich verstanden und bewertet werden können, soll den Fachspezialisten überlassen bleiben. Aus der Sicht des Historikers gilt dieses koranische Selbstverständnis als ein Zeugnis seiner ständigen Korrespondenz mit den aktuellen Situationen, die zu dieser sukzessiven Vortragsweise Anlässe (vgl. asbab an-nuzul - "Offenbarungsanlässe") gegeben haben. Weder besteht zwischen diesen Anlässen irgendeine immanente innere Verbindung, also irgendeine Kontinuität, noch ist es andererseits Anliegen des Korans, wie ein Geschichtswerk die Ereignisse zu verfolgen und ihre Zusammenhänge sowie ihre Entwicklungen und Folgen aufzuzeichnen. Das hätte eine historische Denk- und Vorstellungsweise auf der Grundlage einer linearen Zeitauffassung vorausgesetzt. Eine solche Zeit- und Geschichtsauffassung ist aber mit der koranischen Konzeption unvereinbar.
1.2 "Nacht und Tag" (al-layl wan-nahar) sind als Inbegriff von Zeit (waqt) ebenso von Gott erschaffen (2 1:33) wie "Himmel und Erde" (as-samawat wal-ard) (3:190) als Inbegriff von Raum. Raum und Zeit gelten je als Behälter (zarf) für das, was sich darin befindet bzw. darin stattfindet. Die Anordnung der von Raum und Zeit (beide als "Wo" des Ereignisses bzw. der Gegenstände) umschlossenen Dinge und Abfolgen ist keinem notwendigen, kausalen, daher unumkehrbaren Zusammenhang unterworfen. Diese Anordnung ist vielmehr eher zufällig. In "waqt-Zeit" als in einer nicht linearen, sondern raumhaften Wo-Zeit haben alle Ereignisse unabhängig voneinander eine direkte Beziehung zu ihrem allgegenwärtigen Urheber. Für ihn ist die gesamte Zeit wie der gesamte Raum immer präsent. Es macht keinen Unterschied, ob die Ereignisse (Kreaturen) vertikal in der Zeit oder horizontal im Raum eingeführt werden. Ayam al-arab ("die Tage der Araber", Sg. yaum - Tag; Bezeichnung für Erzählungen von Heldentaten bestimmter arabischer Stämme) als Bezeichnung für die Wiedergabe der in einem Zeitabschnitt fest eingefügten Ereignisse dokumentiert die gleiche Zeitauffassung und die damit verbundene Geschichtserfahrung in der vorislamischen Zeit. Für den Koran bedeutet dies:
Orientierung an bestimmten stets gültigen Topoi, auf die er zurückgreift, indem er jeweils einen bestimmten Aspekt davon als Erklärung für anstehende Fragen, Themen und Geschehnisse hervorhebt, ohne die Notwendigkeit zu sehen, die möglicherweise dahinter steckenden Verbindungen in Betracht zu ziehen. (Als Beispiel sei die Gestalt Abrahams - Ibrahim -genannt: Es steht nicht in der Absicht des Korans, über diese systematisch oder entwicklungsgeschichtlich zu berichten. Abraham/Ibrahim bleibt demnach - und das ist das Sonderbare - stets als eine allgemeingültige Gestalt präsent. Auf situationsadäquate Aspekte der Gestalt greift der Koran zurück, wenn die Lösung der anstehenden Fragen dies erforderlich macht.)
1.3 Demnach läßt sich die Gesamtheit aller Vorkommnisse innerhalb der koranischen Zeit (610 - 32) als ein Gefüge begreifen, das in einen allumgreifenden Rahmen eingebettet ist, nämlich die Befreiung der Araber von Sirk als dem schwersten gesellschaftlichen Übel - Normalerweise wird Sirk mit "Polytheismus" übersetzt und
insoweit mit diesem gleichgesetzt, er wird so als eine minderwertige Religion, als Unglauben, Heidentum verstanden. Nach dem Koran zu urteilen ist Sirk das Bekenntnis (in erster Linie) zu einem Schöpfergott Allah, dem eine Reihe von diversen Göttinnen und Göttern als teils ebenbürtige, teils untergeordnete Mittler bzw. an den göttlichen Entscheidungen und Handlungen teilhabende Mächte und Kräfte beigesellt wird. Diesen kommt jeweils eine bestimmte Funktion zu, ohne welche die tribale Lebensweise nicht bestehen konnte. Die unzertrennliche Verquickung von Sirk und tribaler Lebensweise wandelt Sirk so von einem rein religiösen Bekenntnis in eine allumgreifende, totale Lebensform, ohne die weder der Einzelne noch der Stamm eine Existenzberechtigung hätten. Der Befreiungsprozeß vom Übel Sirk bedeutete zugleich auch die Ausmerzung aller derjenigen Momente aus dem Stammesleben, die eine Basis für Sirk boten bzw. um der Pflege des Sirk willen Einzug in die Stammesstruktur gefunden hatten; all dies wurde durch neue Elemente ersetzt. Das bedeutete gleichzeitlich eine völlige Umstrukturierung der Lebensform, die aus der Verquickung von Sirk und Tribalismus bestand und in der arabischen Gesellschaft vor dem Islam tief verwurzelt war. Folgerichtung mußte diese Umstrukturierung für die Betroffenen einen Wandel ihrer gesamten Existenz bedeuten. Nicht Glaube oder Unglaube als reines Bekenntnis verstanden, sondern dieser Existenzwandel ist es, der in einer unvorstellbaren Dynamik den Inhalt der Geschichte der koranischen Zeit ausmacht. Es empfiehlt sich daher, sich auf die Analyse derjenigen Erscheinungen zu konzentrieren, die als tragende Säule jenes Umstrukturierungsprozesses gegolten und die islamische Ära (z.T. bis heute) mitgeprägt haben. Es sind dies (Zahlen betreffen die Unterpunkte dieses Kapitels):
2. Tribalismus; 3. Sirk; 4. Sirk-Anhänger; 5. Abraham; 6. Schriftbesitzer; 7. Kriege; 8. Umma; 9. Normen; 10. Person Muhammads als die gesamte Entwicklung in sich aufnehmende und bestimmende Gestalt.
2. Tribalismus
Mit dem Tribalismus steht und fällt die Geschichte der arabischen Völker. Die Auseinandersetzung damit bestimmt die Geschichte der Zeit Muhammads und leitet die Geschichte der Folgezeit nach ihm ein. Ausgetragen wird diese - soweit es koranische Belege dafür gibt an folgenden Phänomenen: dem Stamm, seinem Wesen, seiner Struktur, den eigentlichen Verantwortungsträgern, den Verbindungen zwischen den Stämmen und den intertribalen Einrichtungen.
2.1 Stamm (qabila)
Der Ausdruck qabila bezeichnet eine unterschiedlich große Menge von Menschen, die innerhalb einer nach ungeschriebenen, stets aber gültigen und unverletzlichen Regeln strukturierten Gemeinschaft in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander zusammenleben, und das nicht als eine angehäufte Summe von Individuen, sondern als ein unzerlegbares Ganzes, als eine immanent verbundene Einheit. Nicht Quantität, sondern Qualität ist wesentlich, das unsichtbare, wohl evident akzeptierte, bindende Element". Die Auseinandersetzung mit diesem Element bildet das Hauptproblem des Korans während der 23 Jahre von der ersten bis zur letzten Phase seiner Verkündigung, also bis in die Zeit hinein, in der die überwiegende Mehrheit der arabischen Stämme den Islam angenommen hatte, betrifft also auch die zum Islam übergetretenen Stämme. Die Geschichte der Zeit Muhammads - - und auch darüber hinaus, manchen Orts bis heute - - ist ohne dieses Element undenkbar. Alle Versuche, dies in westlichen Sprachen mit einem einzigen Begriff wiederzugeben, sind gescheitert, weil es in der europäischen Geschichte an diesem Phänomen fehlt. Wir kommen vielleicht durch negative Beschreibung dem Wesen dieses bestimmenden Elementes näher. Es handelt sich weder um von außen vorgeschriebene, zwingende Anordnung eines Gehorsams, noch um die uns bekannten Emotionen: Zuneigung, Liebe, Mitgefühl, Gefühle der Verwandtschaft, der Verantwortung, der Solidarität und Loyalität. Es ist viel mehr als die Summe dieser Phänomene. Seine Wirkung steht jenseits aller gewollten und bewußten Motivationen; es beherrscht jedoch dennoch die Menschen in der Weise eines in jedem Individuum tief verankerten anthropologischen Gesetzes; es ruft ein Identitätsgefühl eines jeden mit jedem anderen und mit der Größe "Stamm" schlechthin hervor. Folge dieses Naturgesetzes (nicht Ursache des Stammesgebildes, wie der erste Anschein vermuten lassen könnte) ist es, daß die Angehörigen des Stammes gehindert sind, gegeneinander aufzutreten, daß sie bereit sind, für den Schutz der Identitätsgleichen Hab und Gut zu riskieren, für die Gesamtheit Vorteile zu erringen und Nachteile und Gefahren abzuwenden. Dafür hat der Geschichtsphilosoph Ibn Haldun den Ausdruck asabiyya (das Wort ist koranisch) geprägt, der am besten die motorische Kraft dieses anthropologischen Elements in jedem Stammesmitglied beschreibt. Auch der Terminus asabiyya ist nicht in allen seinen Aspekten übersetzbar. "Loyalität", "Solidarität" u.dgl. bezeichnen bewußte und willentliche, zum Teil mit Berechnung einsetzbare Verhaltensweisen. Wir werden daher im folgenden Asabiyya als Begriff für alle Aspekte verwenden, welche das verbindende Element eines Stammes ausmachen.
2.2 Stammesstruktur
Der Stamm ist als eine übergreifende Einheit konstruiert aus hierarchisch aufeinander fußenden Elementen, beginnend von der kleinsten a‘ila - das ist die Einzelfamilie mit dem Vater an der Spitze - bis zur größten Einheit asira, Sippe, welche zusammen mit anderen Sippen den Stamm ausmacht. Aus mehreren Einzelfamilien, die zusammen vom Großvater abstammen, wird eine weitere Einheit gebildet, aus mehreren davon wieder eine größere bis hin zur asira; je nach der Größe des Stammes zählt man bis zu acht Zwischenstufen mit jeweils eigener Bezeichnung. Bei allen, von der a‘ila bis zur qabila, ist die Blutsverwandtschaft über die Väter (nasab) entscheidend. Entscheidend ist ebenso, daß jede Einheit ein männliches Haupt hat, das am Ende der nasab-Kette steht. Aus diesen Häuptern, suyuh konstituierte sich dann die Spitze des Stammes unter einer Persönlichkeit, der de facto die Rolle des "Stammvaters" zufiel. In ihm flossen die einzelnen nasab-Ketten zusammen. Die gesamte Asabiyya steht in direktem Zusammenhang mit dem Nasab; sie weist nämlich je nach der Nähe des Nasab einen unterschiedlichen Grad von Intensität auf Es war, und das ist wohl einer der wichtigsten Punkte im Leben Muhammads, gerade das Asabiyya-Prinzip, das ihm in Mekka (ca. 11 Jahre lang) Schutz gegen seine Erzfeinde bot, allen voran führenden Vertretern seines eigenen Stammes‘, und ihm in Medina den endgültigen Erfolg bescherte. Sein angesehener Onkel Abu Talib war es, der lediglich kraft der Asabiyya-Pflicht, trotz täglich zunehmendem Druck auf seine eigene Person, bis zu seinem Tod 619 Muhammad vor allen Angriffen entschlossen schützte. Abu Talib handelte so, ohne je den Glauben an das, was sein Schützling Muhammad heftig bekämpfte, nämlich Sirk, aufzugeben. Er ist nie Muslim geworden, obwohl er sowohl nach der Aussage des Korans als auch nach der Logik der Asabiyya zu den ersten gehörte, an die Muhammads Aufruf; den Sirk aufzugeben, sich richtete: "Und warne deine nächsten Sippenmitglieder" (26:2 14). Für uns muß es als paradox erscheinen, daß es im Rahmen der Asabiyya möglich war, daß in ihrem Schatten ein Mann heranwuchs, der sie bis zur Erschütterung bekämpfte. Für Abu Talib als Repräsentant arabischen Geistes stand die Pflicht der Asabiyya über Glaubensverbundenheit, Fragen der persönlichen religiösen Überzeugung traten zurück. Für den Koran ist genau das Gegenteilige der Fall. Vielleicht aus gleichem Grund, nämlich Asabiyya, wünschte sich Muhammad (das galt auch für seine Anhänger) göttliche Vergebung für seinen Onkel und die anderen, die trotz Sirk ihm (und den Gläubigen) beistanden. Die Antwort lautet: ‚Der Prophet und diejenigen, die glauben, haben nicht für die musrikun (Anhänger des Sirk) um Vergebung zu bitten, auch wenn es Verwandte waren (9:123). Der Glaube steht im Koran weit über der tribalistischen Asabiyya.
Der zitierte, vordergründig an Muhammad gerichtete Koranvers trifft den Tribalismus im Kern, mit allen seinen Erscheinungsformen, beginnend mit der a‘ila über asira und qabila bis hin zu Verbindungen zwischen Stämmen (darüber später). Der Koran hat dabei die Tragweite der
1( Zu Muhammads Stamm, den Qurais, vgl. den Beitrag Dostal in diesem Band.)
Blutsverwandtschaft nie in Frage gestellt. Im Gegenteil, er miß ihr große Bedeutung bei2. Der Koran bekämpft speziell dasjenige Element an der Asabiyya, das zum blinden Einsatz füreinander in Recht und Unrecht führte, so wie die Stammesgesetzmäßigkeit es verlangte. Dieses Element stand der Bildung einer souveränen Gemeinschaft mit einer gerechten Ordnung im Wege. "Du wirst kein Volk finden, das an Gott und den Jüngsten Tag glaubt, und dabei diejenigen liebt, die sich Gott und seinem Gesandten widersetzen, auch wenn sie ihre Väter wären oder ihre Söhne, ihre Brüder oder ihre Sippenmitglieder" (58:22); "Und wenn ihr eine Aussage macht, so übt Gerechtigkeit, auch wenn es einen nahen Verwandten betrifft‘ (6:152); "Weder eure Blutverwandtschaft, noch eure Kinder werden euch nützen. Er wird zwischen euch am Tage der Auferstehung entscheiden" (60:3).
Weder der Koran noch Muhammad haben die Asabiyya als das wichtigste, existentielle Element des Tribalismus ausgerottet; das ist auch, wie die Geschichte zeigt, anthropologisch nie möglich gewesen. Doch gehörte die Verdrängung bzw. Einschränkung der Auswirkungen von Asabiyya zu den Kardinalleistungen von Koran und Muhammad und zu den größten historischen Ereignissen jener Zeit.
2.3 Interne Rangordnung und Funktionsweise des Stammes
Es waren primär Araber als Stammesmitglieder, an die der Wortlaut des Korans gerichtet war. Nicht aber interessierten der Stamm und die Stämme als solche den Koran. Für den Koran waren diejenigen Momente aus Stamm und Stammesleben wichtig, die im Rahmen seiner Gesamtzielsetzung haltbar, unhaltbar oder korrekturbedürftig bzw. entwicklungsfähig waren. Aus der kritischen, eher ablehnenden Sicht des Korans scheinen Stämme grob aus zwei gegensätzlichen Gruppen bestanden zu haben, die Hochmütigen (mustakbirun) und die Schwachen (du afa- 14:21) bzw. die für schwach Gehaltenen (mustad afun - 34:31-34; 40:47), so dass sich das tribale Leben im folgenden Rahmen abgespielt haben soll: Geführt wurde jeder Stamm von einer Spitze aus der Mitte der Mustakbirun, der Häupter ihrer Einheiten in der Hierarchie. In den Händen dieser Spitze (sadat - Häupter; kubara‘ – Große 33:67; za‘im, pl. zu ama -Führer, Verantwortungsträger 68:40) lag die Verantwortung für alle Entscheidungen auf den Ebenen Krieg und Frieden sowie Wirtschaft und Beziehungen zu anderen Stämmen, aber auch Religion und Religionsausübung interne Ordnung und aller sonst denkbaren Angelegenheiten des Stammes. Der Rest hatte diese Entscheidungen zu befolgen. Das betraf die Musta afun - als solche zählten nicht wehrfähige Männer, mittellose Frauen, Waisenkinder, Sklaven und in den Stamm aufgenommene Fremde - aber auch die einfachen Stammesmitglieder, die sich ohnehin aus Asabiyya heraus mit den Entscheidungen der Spitze identifizierten. Wäre der Koran statt Muhammad als einem einfachen Stammes Mitglied einem "großen Mann", jemandem aus der Spitze des Stammes, einem bekannten za im offenbart worden (43:31), so wäre mit einem widerstandslosen, rasch um sich greifenden Übertritt der bedeutendsten Stämme, zunächst der Qurais in Mekka und den mit ihnen verbündeten Taqif in al-Ta‘if in der Nachbarschaft zu rechnen gewesen. Blitzartig hätte die Bewegung von ihrem Zentralheiligtum (der Ka´ba) ausgehend ganz Arabien erfaßt. Die Spitze hatte zudem die internen Angelegenheiten zu regeln: Streitigkeiten um Anspruche auf materielle und immaterielle Güter, Bestimmung von Nasab-Ketten. Eine Reihe von Koranversen bezieht sich - unter anderen auch - ermahnend darauf; daß diese Entscheidungen nicht wie in der Zeit der Gahiliyya (Zeit vor dem Islam, 5:50), d.h. zugunsten der Stärkeren, Reicheren, Angeseheneren oder zum Vorteil eigener Verwandter oder Stammesangehöriger fallen dürfen (4:135; 2:88), sondern nur unparteiisch und auf der Grundlage einer absoluten Gerechtigkeit (4:58; 4:135). Die Spitze nahm sich auch das Recht, das Blutgeld eines Stammesangehörigen für sich zu nehmen, was vom Koran dahingehend abgeschafft wird, daß
2 al-arham: 8:75; 33,6. dawi‘l-qurba: 2:83; 2:177; 4:8; 4:36; 5:10; in Mekka: 6:152; 17:26; 18:90; 20:38; 35:18)
das Blutgeld einem Erben des Getöteten zusteht (,,... dann soll er Blutgeld an seine Erben zahlen", 4:92).
Die vielfältige Kritik am herkömmlichen Aufbau der sozialen Verhältnisse innerhalb eines Stammes und den daraus erwachsenden rechtlichen Folgen führte zum Versuch, die Enge des Stammes zugunsten einer übergreifenden größeren gerechteren Einheit zu überwinden. Mit dieser Intention setzt sich der Koran vehement für den Schutz der schwachen, hilflosen Stammesangehörigen, der Waisen, Sklaven und anderer Bedürftiger ein (z.B. 4:3 6; 24; 32:33); seine Aufmerksamkeit galt ganz besonders den Frauen. Diesem Thema sei daher der folgende Abschnitt gewidmet.
2.4 Position der Frau innerhalb des Stammes
Die vielfältige Verantwortlichkeit für das Fortleben des Stammes lag ausschließlich in den Händen der Männer. Sie und nicht die Frauen waren es, die den Stamm gegen alltägliche Angriffe verteidigten, eigene Vorstöße organisierten und so das Überleben des Stammes garantierten. Unsere heutige Frage nach der Stellung der Geschlechter stand innerhalb des arabischen Tribalismus nicht an. Das Ansehen und die Stärke einzelner Stämme hing von der Anzahl und der Kampfkraft ihrer Männer ab (57:20; 102:1). Das hatte eine Auswirkung auch auf die Frauen, deren größter Vorzug ihre Fruchtbarkeit war (2:223). Viele Frauen zu besitzen, galt daher als besonderer Wert. Alles dies besagt aber nicht, daß es den einzelnen Frauen verwehrt gewesen wäre, sich durch Leistung Verdienste und Namen zu erwerben (als Beispiel: Chadija, die erste Frau Muhammads). Vielmehr bestand strukturell weder eine Notwendigkeit noch eine Möglichkeit, die Frau in den Verantwortungsbereich des öffentlichen Lebens einzubeziehen. Nur die Männer riskierten ihr Leben; und daher beanspruchten sie für sich allein die "Hinterlassenschaft ihrer Eltern und Verwandten", was der Koran wie folgt korrigiert: ...und ebenfalls den Frauen steht ein Teil von der Hinterlassenschaft ihrer Eltern und Verwandten zu" (4:7 mit 4:11-14). Der Koran lehnt ferner eine Sitte ab, die charakteristisch für den Ausschluß der Frau von bestimmten tribalistischen Rechten war: "Und sie sagen: ‘Was im Schoße von diesen Tieren ist, ist ausschließlich unseren Männern vorbehalten und unseren Frauen verboten‘, wird es aber tot geboren, dann haben sie (alle) Anteil daran." (6:139). Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, wenn der Koran im allgemeinen nur die Männer (rial) und nicht die Frauen, auch nicht beide gleichzeitig anspricht: "Und es gehört zu Seinen Zeichen, daß Er euch (Männern) aus euch selbst Gattinnen erschaffen hat" (30:2 1). Von den Männern wird verlangt, sich zu verehelichen (3:25; 24:32), "Gerechtigkeit gegen Waisen" (4:20) zu üben, den Frauen ihre Brautgaben zu schenken (4:4) und, wenn sie mehr als eine Frau haben, alle gerecht zu behandeln (4:3), Verantwortung zu tragen (4:34), bestimmte Speisevorschriften einzuhalten (5:3-5). Die Verse sprechen von Tisch- und Ehegemeinschaft mit Schriflbesitzern3: Es sind Männer, die damit angesprochen werden. Philologisch und juristisch hat man die Tischgemeinschaft ebenso auf Frauen ausgeweitet, nicht aber die Ehegemeinschaft. Zieht man in Betracht, daß der entsprechende Vers lediglich beabsichtigt, den Mißbrauch der jüdischen und christlichen Frauen durch gültige Ehen zu ersetzen, so hat es keine Veranlassung gegeben, die umgekehrte Ehe - muslimische Frau mit jüdischem oder christlichem Mann - zu erwähnen.
Der Koran geht von der Realität des Stammeslebens aus und setzt sich damit auseinander. Der Koran will die Frau nicht zu den Schwachen zählen, vergleichbar den Waisen und Sklaven, auch wenn sie in gleicher Weise wie jene behandelt wurden. Die essentielle Kritik diesbezüglich und die neue Definition der gesellschaftlichen Stellung der Frau im Koran gehört zu den wichtigsten Hebeln, die er ansetzt, um die Stammesstruktur zu überwinden. Wie auch in
(3) ahl al-kitab; hierzu im Beitrag Noth.
(4) Weitere Belege für Ansprache nur an Männer: 7:46; 6:9; 12:109. Es gibt sogar eine Stelle im Koran, die den Ausdruck "nas" (Menschen) ausschließlich im Sinn des mannlichen Geschlechts benutzt. "Verlockend ist den Menschen gemacht worden die Liebe zu dem, was man begehrt: Frauen, Söhne, ganze Zentner von Gold und Silber, markierte Pferde, Vieh und Ackerland. Dies ist Nutznießung des diesseitigen Lebens" (3:14).
anderen Bereichen werden auch diesbezüglich die Männer angesprochen: Sie sind es, die ihren Umgang mit den Frauen nach neuen Bestimmungen zu deren Gunsten ändern sollen. Abgesehen von vielerlei Verbesserungen der Lage der Frau im einzelnen dürfte die Einbeziehung der Frau in den Bereich der öffentlichen Verantwortung am meisten zur Zerstörung der herkömmlichen Stammesstruktur beigetragen haben, 9:71: "Und die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen sind einer des anderen auliya‘5: Sie gebieten das Gute und verbieten das Böse6 und verrichten das Gebet und entrichten die zakat7 und gehorchen Allah und Seinem Gesandten. Sie sind es, derer Allah Sich erbarmen wird. Wahrlich, Allah ist Erhaben, Allweise". Es liegt nahe, daß der Einschluß der Frauen in den gesellschaftlichen Lebensbereich bis hin zu einer politischen Verantwortlichkeit (s.o.) auf gleicher Basis wie die Männer den Frauen einen Auftrieb gegeben hat, selbständig, sogar über den Kopf ihrer Männer hinweg, den Islam anzunehmen, und so die Auflösung der tribalen Verhältnisse zu demonstrieren.
2.5 Tribale Bündnisse
2.5.1 Einen größeren Schutz und eine dauerhaftere Sicherheit erzielte jeder kleine oder große Stamm (oder sogar kleinere Einheiten von ihnen) durch ein Bündnis mit anderen Stämmen bzw. deren untergeordneten Einheiten: Aus einem in sich geschlossenen, selbständig agierenden Stamm wurde eine größere tribale Gemeinschaft, vergleichbar einer Konföderation. Das Bündnis wurde durch Eidleistung in einem zeremoniellen Akt (z.B. Eintauchen der Hände in Wasser, in eine angenehm duftende Flüssigkeit oder sogar in ein mit Blut gefülltes Gefäß) beschlossen. In dem dafür geleisteten Schwur steckten Kraft, Garantie und Verbindlichkeit des Bündnisses, von dem eine Losbindung nur mit schweren Folgen möglich war. Die Verschmelzung der Stämme war z.T. so stark, daß sich die Betroffenen nach einigen Generationen nicht mehr als unterschiedliche Stämme, sondern als eine - größere - Einheit begriffen. Die arabische Bezeichnung dafür ist tahaluf bzw. hilf "beschworenes Bündnis". (Auf die Verbindung von hilf und yamin "Eid" weist der Koran hin.) Der Koran verwendet für dieses Phänomen allerdings nicht hilf, sondern ahd "Bund, Vertrag, Versprechen" (z.B. 2:100; 8:56) und auch mitaq "Bündnis, Vertrag", also Begriffe, die mehr den rechtlichen Inhalt und weniger die äußeren Zeremonien in den Vordergrund stellen (2:27; 8:55-56; 4:89; 9:4). Jeder Stamm, und daher jedes Stammesmitglied, verpflichtet sich, für die neuen Verbündeten mit der gleichen Intensität von Asabiyya wie für eigene Stammesmitglieder in Recht und Unrecht Partei zu ergreifen. Zur bereits in jedem einzelnen existentiell vorhandenen Asabiyya kam nun eine weitere Asabiyya zwar sekundär, doch ebenfalls existentiell hinzu. Es entstand eine zweischichtige, untrennbare neue Asabiyya. Mit dieser alle Stämme umspannenden Erscheinung haben der Koran und Muhammad bis zum Schluß sehr schwer zu kämpfen gehabt. Die größte Demonstration eines solchen intertribalen Bündnisses war der letzte große Krieg der Qurais und der ihnen verbündeten Stämme gegen die Medinenser, bekannt als der Grabenkrieg (s.u.).
2.5.2. Zum Schutz und zur Sicherheit einzelner Personen (im Gegensatz zu Stämmen) gab es noch weitere Möglichkeiten, sich eine Stammeszugehörigkeit mit entsprechenden Rechten und Pflichten anzueignen. Die gängigste und wichtigste davon war wala‘. Wala‘, wörtlich ‚"Freundschaft, Unterstützung, Schutzverhältnis" usw. war mit seinen gewohnheitsrechtlichen
(5) Auliya‘, sg. waliy, wird unausreichend mit "Freund" übersetzt. Es handelt sich um einen funktionalen Begriff, der innerhalb des vom Sirk bestimmten Tribalismus Schutzpflicht ausdrückt. Der Vers spricht also von gleicher Verantwortung, die Frauen und Männer füreinander zu tragen haben.
(6) al-amr bi‘l-ma ruf wa‘n-nahy am ‘l-munkar. Grundsatz, der zur politischen Verantwortlichkeit der Muslime auch als Individuen führt.
(7) Als "Almosensteuer" übersetzt. Abgabe zugunsten bestimmter Gruppen, darunter auch sozial Bedürftiger; eine der "5 Säulen" des Islam.
Folgen weit verbreitet. Hierbei schloß sich eine einzelne Person einem Mitglied eines anderen Stammes per wala‘-Pakt an. Es konnte heißen: ‚Nein Blut ist dein Blut, mein Untergang ist dein Untergang, meine Vergeltung ist deine Vergeltung, mein Krieg ist dein Krieg, mein Frieden ist dein Frieden, du beerbst mich und ich beerbe dich, ich werde für dich belangt, dein Blutgeld gehört mir und meins dir"8. Von diesem Pakt haben oft auch größere oder kleinere Einheiten eines Stammes oder gar ein ganzer Stamm Gebrauch gemacht. Anders als im Falle des Hilf-Verhältnisses handelt es sich aber nicht um ein Bündnis zweier gleichgestellter Partner. Der Pakt geht mehr von dem Schutzbedürftigen aus. Hochinteressant ist die Bezeichnung mawla, ein und dieselbe für beide Partner, auch dies schon im Koran: ...an einem Tag, an dem ein Schutzherr (mawla) seinem Schutzbefohlenen (mawla) nichts nützen kann" (44:41); dies verstehen wir als semantischen Hinweis auf die inhaltliche Entsprechung der beiden gegensätzlichen Sinngehalte und zugleich als Betonung der aus wala‘ entstandenen persönlichen Beziehung zwischen den beiden Partnern. Wegen seiner Sicherheit gewährenden Effekte spielte wala‘ samt seiner rechtlichen Folgen als wirksames Prinzip im Alltag der tribalistisch aufgebauten Gemeinwesen eine entscheidende Rolle. Eine fremde Person (bzw. eine Gruppe von fremden Personen) wurde durch diesen mit Eid bekräftigten Anschluß wie ein Blutsverwandter der anderen Seite, also letztlich des entsprechenden Stammes. Die aus dieser arabischen Sitte sich ergebenden gegenseitigen Erbrechte finden sogar bis weit in die medinensische Periode die Zustimmung des Koran (4:33); später wird dies im Zuge eines allgemeinen Umwandlungsprozesses widerrufen bzw. von einer obligatorischen Vererbung in eine freiwillige Schenkung übergeleitet (33:6) [9]. Dass der Koran die Rechtsgewohnheit in Form einer moralischen Freiwilligkeit beibehält, ist ein Indiz für die Tiefe der Verwurzelung des wala‘-Prinzips im alltäglichen Stammesleben: Man konnte de facto nicht darauf verzichten. Der herkömmliche wala‘-Pakt verlor zwar mit den koranischen Neubestimmungen die bisherige rechtlich zwingende Adaptationsfunktion, umso mehr gewann er aber in der Zeit nach Muhammad an Bedeutung bei der "Einbürgerung" bzw. Aufnahme der nichtarabischen Völker in die islamisch-arabische Gemeinschaft nach den großen Eroberungen. Ein besseres Instrument zur Eindämmung der entstandenen Gegensätze - Araber als Eroberer und Nichtaraber als Besiegte - gab es nicht. An die Stelle des Sieger-Besiegten-Verhältnisses konnte die mit Verantwortlichkeit und Asabiyya abgesicherte wala‘-Beziehung treten.
Der Koran hat wala‘ nicht verworfen. Er hat vielmehr die bindende und verbindende Kraft von wala‘ neu bestimmt und daraus eine dauerhafte Grundlage des neuen Gemeinwesens gebildet. Auszuschalten war die an Sirk orientierte Verwendung von maula: "Er (der Mensch) ruft den an, von dem eher Schaden zu erwarten ist als Nutzen. Welch schlimmer Schutzherr (mawla) und welch schlimmer Gefährte!" (22:13) An dessen Stelle tritt Gott als eigentlicher mawla. ...und haltet an Gott fest. Er ist euer mawla (Schutzherr). Welch vorzüglicher mawla und welch vorzüglicher Helfer." (22:78) Von hier aus breitet sich die mawla-Funktion auf das am Eingottglauben orientierte neue Gemeindewesen aus. "Und wenn ihr jedoch gegen Muhammad zusammensteht (und glaubt, euren Willen durchsetzen zu können, werdet ihr nicht zum Ziel kommen). Gott ist ja sein Schutzherr. Und Gabriel, die Gläubigen (alle), soweit sie rechtschaffen sind, und überdies (?) die Engel werden (ihm) Helfer sein" (66:4). Folgerichtig benutzt der Koran dann wala‘ als intensiven Hebel zur Umwälzung des Tribalismus in eine über jegliche Einschränkung hinausragende, universale Gemeinschaft (umma), und zwar sowohl nach innen, d.h. hinsichtlich der daraus entstehenden, inhärenten Anziehungskraft der einzelnen Mitglieder untereinander, wie auch im Hinblick darauf die umma nach außen zu vertreten.
8 Tafsir al-Khazim
9 "Und Blutsverwandte sind (hinsichtlich der Erbschaft) einander näher als die (Übrigen) Gläubigen aus Ausgewanderten - gemäß dem Buche Gottes - es sei denn, daß ihr euren Schützlingen (mawalikum) Güte erweist".
2.5.3 Auch für Notfälle haben die tribalen Lebensumstände eine Schutzmöglichkeit vorgesehen, kurzfristig, aufkündbar, aber ganz und gar zuverlässig: giwar "Nachbarschaft, Schutzgewährung" galt als Schutzmodell meistens für einzelne Personen, aber auch Gruppen, die aus irgendeinem Grund ohne bzw. ohne ausreichenden Schutz dastanden. Diese suchten dann bei einem einflußreichen Mann Schutz vor Gefahren. Der Beschützer mußte erstens über genügend Stärke für die übernommene Verpflichtung verfügen, zweitens diese Verpflichtung der Gültigkeit willen offen und offiziell bekanntgeben. Eine verbindliche Asabiyya des Beschützers und daher auch dessen Familie, Sippe und Stamm für die in Schutz Aufgenommenen war die unmittelbare Folge davon. Möglicherweise hat Muhammad selbst in einer Notsituation davon Gebrauch gemacht: Kurz vor seiner Auswanderung von Mekka nach Medina, also nach dem Tode seines Onkels Abu Talib, soll er nach al-Ta‘if gegangen sein, um dort den giwar, kurzfristigen Schutz, zu suchen. Ein mächtiger Bewohner der Stadt erklärte sich schließlich dazu bereit. Er legte seine Waffen an und betrat in Begleitung seiner gleichfalls bewaffneten Söhne und der Söhne seines Bruders den Versammlungsplatz, wo sich auch Muhammads mekkanischer Feind befand (Abu Gabi). Dort gab er den giwar bekannt, und Muhammad konnte ohne Bedenken in seine Heimatstadt zurückkehren. Giwar wird vom Koran nicht abgeschafft. Im Rahmen des Eingottglaubens kommt ihm eine neue Funktion zu. "Und wenn einer von den Musrikun dich (Muhammad) um Schutz bittet, so gewähre ihm diesen, damit er das Wort Gottes hört. Danach laß ihn einen Ort erreichen, an dem er in Sicherheit ist. Dies (sei ihnen zugestanden), weil sie Leute sind, die nicht Bescheid wissen" (9:6). Es versteht sich, daß in dieser neuen, im Gegensatz zum Sirk konstruierten Ordnung die Rolle des Schutz Gewährenden eigentlich dem einzigen Gott zufällt, in gleicher Weise wie bei wala".
2.5.4. Die bisherige Analyse der Grundzüge der tribalen Ordnung hat deutlich gemacht, daß Schutz von Personen und deren Lebensraum eine zentrale Rolle spielt. Alle bisher genannten Schutzmodelle haben schließlich ein gemeinsames Ziel: Dem einzelnen, dem Familienverband, dem Stamm und den die Stämme übergreifenden Verbänden nach innen und nach außen entsprechenden Schutz zu garantieren. Die Gemeinschaften teilten sich auch demzufolge in eine mächtige, privilegierte Gruppe, diejenigen, die Schutz gewähren konnten, und einen untergeordneten Rest, diejenigen, die auf Schutz angewiesen waren. Wie ausgeführt, lagen alle Entscheidungen in der Hand der ersten Gruppe. Die Ausdrücke mala‘ "Vornehme, Ratsversammlung" (3 8:6) und nadiy "Versammlung" (19:73), die in Bezug auf die Großen benutzt werden, lassen Beratschlagungen dieser Schicht untereinander möglich erscheinen". Vieles, und nicht zuletzt die vielschichtigen Möglichkeiten des Bündnisses und der Schutzgewährung auf tribalistischer Basis, spricht dafür, daß die Mitglieder der mala‘ (das wäre dann eine Art Versammlung der Vornehmen) Stämme übergreifende Beschlüsse fassen konnten. Oben war schon davon die Rede, daß der Islam rasch Erfolg gehabt hätte, wäre Muhammad ein Mitglied dieser Schicht gewesen (vgl. auch 43:31). Bei aller Kritik am Hochmut der Großen (34:31-33; 14:21; 40:47) waren Muhammad und der Koran sich der Wichtigkeit der mächtigen Oberschicht, auch der mala‘, bewußt und zumindest anfänglich auch bestrebt, deren Autorität für die eigene Sache zu nutzen (s.o., 26:2 14). Es waren andererseits später die Häupter (sadat) und Großen (kubara‘) aus den zwei wichtigsten medinensischen Stämmen, Aus und (vor allem) Hazrag, die durch ihre Annahme der Botschaft Muhammad schon vor dessen Auswanderung nach Medina und auch in der unmittelbar folgenden Zeit den Weg geebnet haben; wegen ihrer Autorität traten viele mit ihnen verbündete Menschen (und sogar nicht verbündete) zum Islam über. Das gleiche galt für die Stämme in Mekka und Umgebung, nachdem ihre Häupter, die zuvor die hartnäckigsten Feinde Muhammads waren, den Islam angenommen hatten: so die mit den Qurais verbündeten Banu
10 Vgl. 23:88; 46:31; 67:28; 72:22.
11Vgl. den Beitrag Dostal in diesem Band.
Taqif in der Stadt al-Ta‘if und die anderweitig mit den Mekkanern verbundenen Stämme und tribalen Einheiten. Ihre Häupter sandten Delegationen zu Muhammad nach Medina und huldigten ihm als dem Gesandten Gottes. Dies galt auch für die beduinischen Stämme, die in der Folge ihrer Häupter zum Islam übergetreten sind.
Fazit: Es war gerade die tribalistische Lebensvorstellung und ihre unverletzlichen Gesetzmäßigkeiten, die zunächst Muhammads Leben vor zunehmenden Gefahren schützten und ihm später in verhältnismäßig kurzer Zeit, vor allem in der medinensischen Periode, Erfolg bescherten. Es lag auch nicht in Muhammads Absichten, den Tribalismus zu zerstören oder abzuschaffen; das wäre auch, wie die Geschichte gezeigt hat, nicht möglich gewesen. Ihm ging es darum, den Sirk bis zu einer völligen Entwurzelung zu bekämpfen. Es wurden daher jene Erscheinungen und Bestimmungen des tribalen Lebens zurückgedrückt oder abgeschafft, die direkt an Sirk orientiert waren. Die starke Verwurzelung des Tribalismus in der arabischen Geschichte hat sogar später umgekehrt ihre Schatten auf die vom Islam neu konzipierten Verhältnisse, auf die islamische Geschichte und zeitweise auf die islamische Lehre geworfen.
3. Sirk und dessen historische Tragweite
Die Muslime setzen Sirk mit Polytheismus gleich und tun ihn daher als falsche Religion ab; andere ordnen ihn den polytheistischen Religionen zu, ohne sich mit dem, was Sirk sonst bewirkt, zu befassen. Betrachtet man Sirk nur als eine Religion, so versperrt man sich den Blick für dessen Tragweite für die tribalistische Lebensweise und für die islamische Lehre und Geschichte, und das nicht nur für die Zeit Muhammads.
3.1 Inhaltsbestimmung
Aus sämtlichen aus der Wurzel s-r-k abgeleiteten Wörtern im Koran ist vorerst zu entnehmen: Sirk ist die Überzeugung von der Teilhaberschaft von Menschen, Engeln, Ginn, Teufel(n), Naturkräften, Götzen, Gestirnen, unsichtbaren Kräften usw. am Wesen und an der Tätigkeit des Schöpfergottes, ja sogar an seiner, Allahs, Göttlichkeit, Herrschaft, Anbetungswürdigkeit, Wirkung, Nähe usw. Damit verbinden sich Erwartungen materieller Natur, die Erfüllung der Lebensbedürfnisse in dieser Welt. Sirk ist keine Glaubensüberzeugung mit spirituellen Zielen und hat mit dem jenseitigen Leben nach dem Tode nichts im Sinn. Setzt man Sirk in Beziehung zum Tribalismus, so kommt noch folgendes hinzu: Tribalismus bestimmt die Standorte der Einzelnen, der Stämme, deren Einheiten und Verbände, also deren soziale Dimension und ihre Verhältnisse zueinander und zur mannigfaltigen, disparaten Gesamtheit. Das geschieht in Form ungeschriebener Gesetzmäßigkeiten, die Rechte und Pflichten (meist zugunsten der Stärkeren) festlegen. Sirk seinerseits bildet die Basis für die Erfüllung der alltäglichen körperlichen und seelischen Bedürfnisse im Diesseits. Sirk hat auf die Ängste, Freuden, Hoffnungen, Wünsche, Verwünschungen, Erfolge, Mißerfolge, Ziele und Erwartungen usw. der Menschen einzugehen. Im Gegensatz zum Tribalismus hat Sirk mit dem Tun und Lassen der Einzelnen und der Gemeinschaft zu tun, also mit Geboten und Verboten, die gegenüber der eigenen Person, den "eigenen" Menschen und Menschengruppen, dem Gemeinwesen, aber ganz besonders gegenüber den Göttern und Gottheiten, auch und gerade dem einzigen Schöpfergott (Allah), gelten sollen. Sirk bestimmt also den facettenreichen, in die Welt der Götter, Engel und Geister reichenden, vieldimensionalen Inhalt des Lebens. Der Tribalismus hat im Großen und Ganzen eine Art politische und gesellschaftliche Aufgabe; Sirk ist für die Ordnung sonstiger Lebensbereiche zuständig. Sirk verkörpert eine besondere Lebensform, mit deren Einzelheiten der Koran und Muhammad von Anfang (ca. 610) bis Ende (632) zu kämpfen hatten.
3.2 Der einzige Gott (Allah) und vielen Göttern (aliha)
Im Begriff "Sirk" steckt die Überzeugung vom Primat der Existenz eines einzigen Gottes, Allah, dem dann aus welchem Grunde auch immer andere Götter beigesellt werden. Der Koran liefert eine Fülle von Belegen dafür: "Und wenn du sie (mekkanische musrikun) fragst, wer die Himmel und die Erde erschaffen und die Sonne und den Mond dienstbar gemacht hat, sagen sie gewiß: ‘Allah’" (29:61). Diesem übergeordneten Schöpfergott brachten sie im Rahmen ihres Sirk-Kultes Opfer: "Und sie haben für Allah einen Anteil festgesetzt, von dem, was Er an Feldernte und Vieh erschaffen hat. Und sie sagen: ‘Dies ist für Allah‘ - so meinen sie - ‘und dies ist für unsere Teilhaber‘" (6:136, mekkanisch - im Folgenden: mk.). Sie haben den Namen "Allah" für Eidleistung gebraucht "Und sie haben bei Allah ihren eifrigen Eid geschworen" (6:109, mk.). Sie machten sogar "Allah" für ihren Sirk-Kult und ihre Taten verantwortlich; die musrikun sagen: "Wenn Allah gewollt hätte, so hätten wir nicht beigesellt und auch nicht unsere Väter, und wir hätten auch nichts für verboten erklärt" (6:148, mk., s. auch: 7:28). Hier ist, wie auch sonst, die Berufung auf die Väter von großer Bedeutung, eine Art Traditionsbewußtsein, das eine längere, ernstzunehmende Geschichte des Sirk verrät. Nicht nur das; noch spannender ist die Überzeugung der musrikun von göttlicher Gesandtschaft: "Wenn ein Zeichen zu ihnen kommt, sagen sie: ‘Wir werden nicht glauben, bis wir nicht das gleiche (an Zeichen) erhalten, was die Gesandten Gottes erhalten haben"‘ (6:124, mk.). Sie haben sogar einen solchen Gesandten erwartet: "Und sie haben bei Allah ihren eifrigen Eid geschworen, sie würden, wenn ein Warner zu ihnen käme, treuer der Rechtleitung folgen, als irgendeine von den (früheren) Gemeinschaften" (3 5:42, mk.). Die historischen Signale, die aus den Begriffen rusul "Gesandte" (sg. rasul) und nadir "Warner" hervorgehen, sind nicht hoch genug zu schätzen. Allah, Gesandte, Warner: dies alles sind Instrumente der prophetischen Religion, mit denen die Gesprächspartner Muhammads, also die mekkanischen musrikun, wohl vertraut waren. Sie erscheinen mindestens zum Teil nicht als ein fremdes Glaubensgut, von dem sie nur gehört haben, sondern als im Rahmen der eigenen religiösen Vorstellungen gut bekannte, mit Selbstverständlichkeit argumentativ verwendbare Erscheinungen. Sicherlich sind diese Aussagen nicht als die eines einfachen musrik zu verstehen. Dahinter sind vielmehr Kenntnisse über die eigene Tradition und noch mehr über das Wesen prophetischer Religionen zu vermuten. Von besonderer Bedeutung ist das Wort rusul "(frühere) Gesandte". Welche früheren Gesandten können hier gemeint sein? Darauf gibt der Koran selbst eine klare Antwort; eine Antwort, die für mich sonst bislang als Rätsel galt: Wie kommt ein arabischer Prophet, Muhammad, dazu, bereits in den allerersten Phasen seiner Sendung, bereits in einer der ersten in Mekka verkündeten Suren, nämlich al-A la (Nr. 87), für die Richtigkeit und Wahrheit seiner Botschaft Beweise aus einer Tradition zu bringen, die völlig außerhalb des Horizontes der vom Monotheismus, insbesondere dem Judentum und dem Christentum, weit entfernten Araber liegen mußte? Wie konnte Hoffnung bestehen, die angesprochenen Mekkaner, musrikun, zu überzeugen, wenn sie hören: "Dies steht in den früheren Blättern (Schriften), Schriften von Abraham und Mose" (87:18-19, mk.). Was haben Abraham und Mose mit Arabern zu tun, die Abraham und Mose weder kannten noch an sie glaubten? Sie wären ja andernfalls keine musrikun mehr gewesen!
In der zitierten Sure 87 geht es um mehr als eine bloße Auseinandersetzung mit Vielgötterei. Es geht um etwas, das die musrikun definitiv ablehnten, obwohl sie an Allah als an einen Schöpfergott glaubten. Es geht darum, daß der Koran hier die Grundhaltung der musrikun zurückweist, und das ist die Einschränkung des Lebens nur auf das Diesseits (87:16-17, mk., unmittelbar vor dem ersten Zitat): "Aber ihr zieht das diesseitige Leben vor, wo doch das Jenseits besser ist und eher Bestand hat". Es geht also um die Existenz des Jenseits, also um etwas, was nie durch logische Argumente beweisbar war und ist. Der einzige Weg für Muhammad, diese Behauptung für die Angesprochenen glaubhaft zu machen, war, sich auf anerkannte Persönlichkeiten zu beziehen: Abraham und Mose müßten daher über eine unbestrittene Autorität bei den Arabern - oder zumindest bei dem informierten Kreis von ihnen - verfügt haben. Diese Autorität mußte reichen, sie unter Hinweis auf entsprechende Schriften von diesem absolut schwierigsten Glaubensartikel zu überzeugen, dem sie vehement widersprachen. So leuchtet ein, daß die von (gewissen?) musrikun in die Diskussion mit Muhammad eingebrachten Gesandten der Nachfolge von Abraham und Mose entstammen müßten. Religionsphänomenologisch sind also der arabische Sirk höher einzustufen, als es bis jetzt durch Juden, Christen und Muslime angenommen wurde; sie alle haben Sirk als ihren absoluten Gegensatz ab qualifiziert und als Unglauben abgelehnt. Die koranische Einstellung ist aber ganz anders: Nach einer Reihe von koranischen Zeugnissen, Äußerungen und Indizien handelt es sich beim Sirk - das ist noch zu zeigen - um eine Abart der ursprünglichen abrahamitischen Glaubensausrichtung, die durch die jahrhundertelange Einwirkung der tribalen Lebensumstände unter gewissen Bedingungen von Raum und Zeit in die von Abraham bekämpfte Götzendienerei zurückgefallen ist, allerdings ohne - und das ist dabei für das Abrahamitische am Sirk entscheidend - am monotheistischen Kern, also an der Existenz und dem Wirken des einzigen Gottes "Allah" zu zweifeln. Im Gegenteil! Sie glaubten, daß Allah und nur er "die Himmel und die Erde geschaffen" und "die Sonne und den Mond dienstbar gemacht" hat, daß er "Wasser vom Himmel hernieder" sendet und "damit die Erde nach ihrem Tod" belebt (29:6 1,63, mk.). Sie waren ferner davon überzeugt, daß Allah ihnen den Lebensunterhalt ‚ vom Himmel und von der Erde beschert", über "Gehör und Augenlicht" verfügt, "das Lebendige aus dem Toten und das Tote aus dem Lebendigen hervorbringt" und "den Logos dirigiert" (10:31, mk.). 12 Aus diesem Glauben heraus haben sie sogar in ausweglos erscheinenden Situationen, z.B. in Seenot, "zu ihm um Hilfe" geschrien (17:67, mk.). Aber wenn er hierauf eure Not behebt, hat ein Teil von euch nichts Eiligeres zu tun, als ihrem Herrn (andere Götter) beizugesellen" (16:53-54, mk.). Dies ist darin begründet, daß sie im Alltag ohne ihre Götter nicht zurechtkamen (dazu unten). Das ist typisch für dies monotheistisch fundierte, aber an mehreren Göttern (aliha) orientierte Sirk.
3.3 Viele Götter (aliha) und der einzige Gott (Allah)
"Und die meisten von ihnen glauben nicht an Gott, ohne (ihm gleichzeitig andere Götter) beizugesellen" (12:106, mk.). Es ist kaum möglich, deutlicher als dieser mekkanische Koranvers die Realität der herkömmlichen arabischen Weltauffassung wiederzugeben: den Glauben an Gott als eine religiöse Bindung einerseits und die feste Einbindung im Sirk im praktischen Alltag andererseits. Entscheidend ist die Frage nach der Unvermeidbarkeit von Sirk im Alltag trotz Glauben an den einzigen Gott. Es gibt im Koran kein Anzeichen dafür, daß die Frage nach dem Wesen und Werden der Welt, der Natur und des Menschen, sowie die Suche nach einer akzeptablen Antwort darauf die arabischen musrikun beschäftigt hätte. Im Gegenteil: Ihre Erwiderung auf Überlegungen in Bezug auf das Jenseits erschöpfte sich in der Überzeugung: "Es gibt nur unser diesseitiges Leben. Wir sterben und leben und nur die Zeit macht uns zunichte" (45:24, mk.); "Und sie (die musrikun) sagen: ‘Es gibt kein anderes als unser irdisches Leben, und wir werden nicht wiedererweckt werden"‘ (6:29, mk.). Darauf kommt es im Grunde an: Sie waren überzeugt, das menschliche Leben gehe mit dem Tode zu Ende; ihnen fehlte jede Motivation, kraft einer Spiritualität einem höheren als einem nur materiellen Ziel näher zu kommen. Ihnen fehlte eine mythologische Tradition, für unterschiedliche Naturereignisse je eine Gottheit anzunehmen, wie es bei Polytheisten sonst der Fall ist. Ihr eigentliches, lediglich diesseitiges Ziel war es, das Leben vor jeglichem "Schaden" (darr) zu schützen und sich so viel "Nutzen" (naf) wie möglich anzueignen, wobei der Schutz vor Gefahren die Hauptrolle spielte. Für die Erfüllung großer Ziele wandten sie sich dem über alle Gefährdungen erhabenen Schöpfergott zu, zu dem sie riefen, den sie anbeteten, dem sie Opfer brachten, damit er sie vor Not, Dürre, Unglück, Gefahren auf Reisen zu Wasser oder zu Lande, Naturkatastrophen, Mond- und Sonnenfinsternis, Blitz und Donner und sonstigen Naturereignissen schütze und umgekehrt die von ihm erschaffenen Naturerscheinungen, Himmel, Sonne, Mond, Sterne, Wolken, Erde, Regen, Wind, Wasser usw. zu ihrem Nutzen einsetze. Was aber die konkreten Lebensbedürfnisse des Alltags betraf; nämlich a) den Schutz gegen das Böse und akute Gefahren, Befreiung von allerlei Leiden, Krankheiten, Ängsten, Besorgnissen usw. und
12 Vgl. ferner für die Anerkennung Allahs als Schöpfergott: 23:84-88 (nik.), mit einem Hinweis auf Allah als Gewährer von Schutz (giwar, s.o.).
b) die Erfüllung materieller Bedürfnisse und Wünsche, wie Ernährung, Behausung, Nachkommenschaft, Gewinn und Erfolg, Sieg über den Feind usw. - dafür war ihnen der erhabene Gott zu fern. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß er sich um jede Person und alle die nimmer aufhörenden Wünsche und Befürchtungen, um all die unendlichen Kleinigkeiten kümmern könne. Dafür mußten andere Mächte, Götter und Kräfte zuständig sein, davon waren die musrikun überzeugt. Das hielten sie sogar für eine gottgewollte Einrichtung(6: 148; 16:3 5, inh.). Ohne diese Einrichtung, so glaubten sie, müsse die diesseitige göttliche Ordnung zusammenbrechen.
Wer dagegen der Meinung war, daß auch ohne solche Mächte das Leben noch fortgesetzt werden könne, der mußte ein Zauberer (sahir) sein. "Die Ungläubigen sagen: ‘Das ist ein Zauberer, er (Muhammad) lügt. Will er denn die Götter zu einem einzigen Gott machen?’" (38:4-5, vgl. auch 38: 6-8; 6:148; 39:43; 43:22, alle mk.). Ohne diese fest gefügte, in sich schlüssige, Generation auf Generation wirksame Lebensform der Kooperation eines einzigen Gottes mit anderen Göttern konnte - so ihre Überzeugung - nichts mehr funktionieren. Der Wegfall dieser Ordnung bedrohte sie mit Orientierungslosigkeit; die koranische Aufforderung, dieses Göttersystem abzulegen, wurde vehement bekämpft. Ihre Erwiderung: "0 unser Gott, wenn dies die Wahrheit ist (und) von dir (kommt), so laß auf uns Steine vom Himmel regnen oder bring über uns eine schmerzhafte Pein" (8:32, medinensisch - im Folgenden: md.) darf im Kontext dieser Auseinandersetzung nicht als bloße Hartnäckigkeit, sondern muß als Verzweiflung verstanden werden. Der Protest richtet sich nicht gegen Muhammad, sondern gegen Allah selbst. Er wird angerufen, er möge sie vernichten, wenn der Wahrheit entspricht, was Muhammad fordert, daß nämlich die anderen Götter abzulehnen sind. Tod oder Strafe aus der Hand Allahs sind ihnen lieber, als ihre Götter aufzugeben, ohne die sie völlig lebensunfähig werden müssen.
Auf diesen Zusammenhang weist auch der Ausdruck suraka‘ "Teilhaber" hin. Dieser Ausdruck wird zum einen für die Götter und Wesenheiten gebraucht, die dem einzigen Gott beigesellt werden (z.B. 6:100, mk., in Bezug auf Ginn), zum andern aber auch - und das ist für Sirk als Lebensform entscheidend - öfters im Sinn von "Teilhaber am Leben von musrikun: "Und wir sehen eure Fürsprecher (sufa a‘), von denen ihr behauptet habt, daß sie Teilhaber an euch seien, nicht bei euch" (6:94, mk.). Die Gottheiten galten also als Kräfte, die stets am Leben der einzelnen teilnahmen wie ein Schatten; sie begleiteten, überwachten, beschützten das Leben der einzelnen und gewährten ihm in seinem Tun und Lassen Mut und Sicherheit. Sirk ist nicht so sehr ein Glaube im Sinn einer inneren Überzeugung des Herzens, sondern eine durch alle psychischen Vorgänge seiner Anhänger hindurch laufende Lebenskraft. Über 80 Prozent der Koranverse (während der gesamten koranischen Zeit, ca. 23 Jahre) sind gegen Sirk gerichtet und gegen alles, was damit zusammenhängt: die Leugnung des jenseitigen Lebens, das Fehlen des Spirituellen usw.). Das ist ein Beweis für die ungeheuer starke Verschmelzung der Existenz eines jeden einzelnen, ein Beweis für die Schwierigkeit, die für jeden konkret faßbare Lebensrealität abzuschaffen, d.h. eine Wesensänderung eines Volkes mit Jahrhunderte alter Geschichte vorzunehmen - eine Schwierigkeit, die rein religionsgeschichtlich gesehen Moses, Jesus und andere Religionsstifter nicht hatten.
Bislang hat man es als etwas Erbauliches, als Predigt, sogar als fromme Sprüche verstanden, den historischen Sinn und den ungemein funktionalen Charakter desjenigen Typs von Koranversen nicht in Betracht gezogen, in denen ein übers andere Mal die allumfassende Macht, das allumfassende Wissen und Wollen Gottes, das bis in letzte Kleinigkeiten reicht, deklariert wird. Unter zahlreichen Belegen seien folgende genannt: "Kein Blatt fällt, ohne daß Er darüber Bescheid weiß" (6:59, mk); "Er weiß, was sich hinter den Augen an Verrat versteckt und was die Brust verbirgt" (40:19, mk.); "Er weiß, was sie geheimhalten und was sie offenlegen" (11:5, mk.); "Und Gottes Wille wird durch nichts vereitelt, weder im Himmel, noch auf der Erde" (3 5:44, mk.); oder: "Wir sind ihm (dem Menschen) näher als die Halsschlagader" (50:15, mk.); "Bei ihm ist es so: Wenn er etwas will, sagt er dazu nur: Sei! und es ist" (36:82, mk.); ‚Nicht einmal das Gewicht eines Stäubchens im Himmel oder auf der Erde ist vor ihm verborgen" (34:3, mk.). Diese Koranverse sind keineswegs als rhetorische Phrasen und Floskeln zu verstehen. Sie versuchen vielmehr, den musrikun eine neue, umfassende, sicherere Lebensform nahezulegen, die alles, was sie von den Göttern und Götzen erwarteten, nun durch die Allgegenwart des sich um alles und jeden kümmernden Einen um ein Vielfaches besser und mehr erfüllen werde. Dies Angebot war allerdings, wie die Geschichte in der Folge zeigte, für die meisten der angesprochenen schwer nachzuvollziehen, ganz besonders wegen der massiven Verflechtung von Sirk und Tribalismus; aus dieser Verflechtung ergab sich eine Ordnung (sari a): "Oder haben sie (etwa) Teilhaber, die ihnen als Religion verordnet haben (sara u lahum), was Gott nicht erlaubt hat?" (42:2 1, mk.).
3.3 Sirk, Tribalismus und die daraus hervorgegangene Kult (sari a)
Die mekkanischen musrikun waren, wie gesagt, der Auffassung, daß sich alles um das Leben im Diesseits drehe: ihr Streben war, vor "Schaden" (darr) geschützt zu sein und des ‚Nützlichen" und "Guten" (naf; hair) teilhaftig zu werden. Sofern dies Menschen betraf; hatte dafür der Tribalismus mit all seinen Regelungen zu sorgen; sofern es aber die nicht vorher kalkulierbare und ständig wechselnde individuelle und gemeinschaftliche Lebenspraxis in all ihren mannigfaltigen Teilbereichen anging, in der sich die Menschen unzähligen Kräften ausgesetzt fühlten, mußten höhere Mächte und Kräfte herangezogen werden. Die Vielgötterei und Sirk-Ordnung war die Lösung.
Tribalismus und Sirk gehen von einer gemeinsamen Basis (Schutz und Sicherheit im Zusammenleben mit den anderen - Tribalismus - und in der Gestaltung des eigenen Lebens - Sirk) aus; sie verfolgen ein gemeinsames Ziel auf unterschiedlichen Wegen. Die tribalistischen Gesetzmäßigkeiten garantierten verschiedene, von jedermann am eigenen Leib nachvollziehbare Arten der Asabiyya. Für das alltägliche Leben sollten außerdem höhere, in der Regel unsichtbare Mächte mit ihren jeweiligen Kräften Garantie geben. Die unzähligen Götter und anderen metaphysischen Wesenheiten, deren "Zuständigkeitsbereich" vom Individuum über Familie, Sippe, Stamm bis hin zu ganz Arabien und vielleicht darüber hinaus reichte, entsprachen dabei der Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse, Wünsche und Befürchtungen. Im Gegensatz zum Tribalismus, dessen Funktionieren vom Willen der Beteiligten, vor allem der ‚ Häupter" und "Großen" abhängig war, bedurfte Sirk für seine Funktionstüchtigkeit der Werbung um die Hilfeleistung von Göttern. Diese Werbung nahm mit der Zeit feste Formen an und entwickelte sich zu einem durchaus allgemeingültigen Kult, zu einer eigenen sari a, mit der Überzeugung, daß diese auf den einzigen Gott zurückgehe. Der höchste Garant für die Ordnung im Sirk und ihren Fortbestand auf individueller und tribaler Ebene ist und bleibt das höchste metaphysische Wesen. Um dessen Hilfe allerdings muß mittels der ihm untergeordneten Götter und Wesenheiten gebeten werden. Der höchste Schöpfergott ist also nicht nur für den Erhalt seiner Schöpfung zuständig. Er garantiert auch den Ablauf des diesseitigen Lebens - mittels der ihm untergeordneten Götter und Wesenheiten, die als Fürsprecher und Vermittler (sufa a‘), Teilhaber am Leben (suraka‘) sowie als Schutzpatrone (awliya‘) gesehen werden. Die sich ergebende Hierarchie: Gott an der Spitze, unter ihm die verschiedenen Wesenheiten mit unterschiedlichen Qualifikationen und Machtvollkommenheiten, Engel, Gin und große Gottheiten wie al-Lat, al- Uzza, al-Manat (wahrscheinlich Symbole für himmlische Kräfte) bildet für die Lebenspraxis ein unsichtbares System, welches der Stammesstruktur ähnelt. Dies verweist historisch gesehen auf die enge Korrelation von Tribalismus und Sirk, vielleicht sogar auf die Unzertrennlichkeit der beiden Erscheinungen. Die göttliche Garantie für den Erhalt und die Fortdauer des Sirk-Systems wurde entscheidend durch den Kult erworben. Dieser bestand sowohl in rituellen Handlungen, wie bestimmten Gebetesformen (Verbeugen, Niederwerfen, Stehen), Umlauf um die Götzenbilder, Darbringung von Tieropfern, Gelübden, als auch in der Einhaltung bestimmter Vorschriften davon, was zulässig und was verboten oder geboten ist. Diese Vorschriften bezogen auch Verzehr oder Vermeidung bestimmter Speisen mit ein. Sie zeigten Rechte und Pflichten innerhalb der Familie, sie gaben Maßregeln für Krieg und Frieden innerhalb bestimmter Zeiten und an bestimmten Plätzen. Bei diesem Kult handelte es sich, wie aus koranischen Hinweisen zu entnehmen ist, um eine in den Augen der mekkanischen musrikun durchaus ernstzunehmende sari a. Für den Kult selbst waren bestimmte Gruppen zuständig. Es waren angesehene Leute, denen der Schutz der Kultstätte eines Stammes oder eines Teilstammes (jede tribale Einheit hatte eine Kultstätte) und die Durchführung des Kultes sowie die Pflege der entsprechenden Gebäude oblag; dem Kult gewidmete Gebäude verfügten oft über eine eigene Ka’ba. Die höchste Ka’ba, die von Mekka, galt nicht nur als Sammelort für über 380 Götzen und Göttergestalten (meist Symbole höherer Wesenheiten), sondern auch und vor allem als Haus des einzigen Gottes Allah. Daher genoß sie einen besonderen Ruf und eine Anerkennung durch alle arabischen und manche nichtarabischen Stämme und Völker, die einmalig war. Die Wallfahrt dorthin und die Durchführung der entsprechenden Kulthandlungen machten eine unantastbare Zeit, "heilige Monate" (al-ashur al-huruni) und einen unantastbaren Raum, einen heiligen Platz der Niederwerfung" (al-masgid al-haram) erforderlich. Ob allen anderen größeren und kleineren Heiligtümern (mit oder ohne Ka’ba) ihrerseits eine entsprechende Heiligkeit zukam, ist nicht festzustellen; aber analog zur Kultstätte in Mekka ist gewiß von einem gewissen Respekt vor ihnen auszugehen. Respekt galt auch den sadana, ‚Hütern der Kultstätte", die für ihren Erhalt, die Durchführung von Kulthandlungen, Versorgung der Pilger usw. zuständig waren. Dabei hatten die sadana von Mekka möglicherweise eine Sonderstellung inne, die bis zur Unantastbarkeit gehen konnte. Der Großvater Muhammads, Abd al-Muttalib, und seine Söhne, besonders auch Muhammads Onkel Abu Talib, haben dieses Ansehen im höchsten Maße genossen13. Dieses Ansehen ist - neben der Asabiyya - dafür verantwortlich zu machen, daß Muhammad unter dem Schutz Abu Talibs unversehrt blieb (s.o.); auch und besonders die Großen eines Stammes zollten den sadana Respekt, weil sie eben für die richtige Durchführung der für den Fortbestand des Sirk-Systems erforderlichen Kulthandlungen unentbehrlich waren. Ob die Hüter des Kults wie eine Sonderschicht miteinander verbunden waren, läßt sich nicht feststellen. Über ihre Aufgabe in der Einhaltung des Kultes und der Vorschriften über Verbotenes und Erlaubtes hinaus erkennen ihnen manche Kommentatoren eine Rolle als Fürsprecher (sufa a‘) bei Gott und Gottheiten zu. Im Koran ist von den ‚ Hütern des Kultes" nicht die Rede, wohl aber von hohen, verdienstvollen Ämtern, der Versorgung der Pilger mit Wasser und der Erhaltung der heiligen Moschee (9:19); hinzu kommt noch die Bewirtung der Pilger. Inhaber dieser Ämter waren angesehene Männer von den Qurais. Höchstwahrscheinlich sind es alle diese Amtsträger, die der Koran mit zwei weiteren Begriffen aus der Sirk-sari a (dem vorislamischen Kult also) in Verbindung bringt: suraka‘ und suhada‘. Suraka‘ ("Teilhaber") wird im Koran zuweilen im sinne von "Gott Teilhaber zur Seite stellen" gebraucht (z.B. 13:16). Es wird aber oft auch im Sinne von "Teilhaber am Lebensgeschick der Menschen als deren Helfer" verwendet (10:34). In diesem Sinn werden "Teilhaber" mit "Rechtleitung" im religiösen Sinn zusammengebracht (10:3 5, mk.). Deutlich kommt ihnen die Rolle von sari "Religionsstifter" im folgenden Vers zu: "Oder haben sie etwa Teilhaber, die ihnen eine Glaubenslehre vorgeschrieben haben (sara a), die Gott nicht verordnet hat?" (42,21, mk.). Ebenso hat suhada‘ "Zeugen" eine religiöse Funktion inne. "Eure Zeugen, die bezeugen, Gott habe dies verboten. Wenn sie (dies) bezeugen, so lege du (Muhammad) nicht mit ihnen Zeugnis ab" (6:150). Es müssen Leute mit religiöser Autorität gewesen sein, die glaubten, die in Mekka vorhandene sari a sei von Gott angeordnet (6:148), und sie trügen die Verantwortung für ihren Erhalt. In diesem Sinn wird das Wort "Zeuge" sogar für die Verantwortung für die Lehre des Islam verwendet:[...] damit der Gesandte Zeuge (sahid) über euch sei und damit ihr Zeugen über die Menschen sein möget" (22:78). Gelegentlich wird sogar die prophetische Funktion so bezeichnet: "0 Prophet, wir haben dich als einen Zeugen, als Bringer froher Botschaft und als Warner entsandt" (33:45). Sahid/suhada‘ darf- das gilt für die sirk-Zeit - nicht als Bezeichnung für bloße Zuschauer von
[13] Zur Stellung der Banu Hasim als "sadana" des mekkanischen Heiligtums vgl. im Beitrag Dostal.
Tun und Lassen anderer verstanden werden, sondern gemeint sind Menschen, die aus einer Position der Autorität heraus religiöse Verantwortung übernehmen.
Aus der Warte der musrikun standen ihre "Teilhaber" und "Zeugen" mit ihrer religiösen Autorität Gott näher. Sie haben daher in ihnen gleichzeitig ‚Fürsprecher" (sufa a‘) erblickt (30:12), analog zu der Haltung, die sie bei Schriftbesitzern vorfanden (7:31): Ihre Überzeugung von der Richtigkeit ihrer eigenen sari a war - das zeigt der nächste Abschnitt - so gewaltig, daß sie davon ohne ein neues Identitätsbewußtsein nicht wegkommen konnten. Die starke Verquickung der Sirk-sari a mit dem Tribalismus läßt darauf schließen, daß unter dem Personenkreis der Großen und Häupter schließlich ebenso die suraka‘, suhada‘ und sogar die sadana zu verstehen sind. Das wirft weiteres Licht auf die Verschmelzung von Stammesführung und religiöser Führung. Zumindest bei den Qurais konnte ein und dieselbe Person eine doppelte Funktion innehaben bzw. über ein Mitbestimmungsrecht dafür verfügen.
3.4. al-Hagg als einzigartige Brücke zwischen der koranischen Botschaft und der (Sirk-) Zeit davor
Es gibt keinen anderen Ritus aus der Sirk-Zeit, der eine so große und bedenkenlose Zustimmung im Koran findet wie die von allen musrikun (und vielleicht zum Teil auch von den Schriftbesitzern) auf der arabischen Halbinsel und darüber hinaus in einer bestimmten Zeit (nämlich den "heiligen Monaten") und in einem bestimmten Raum (in der und um die heilige Moschee" herum) geachteten und praktizierten rituellen Handelungen. Dies aber nicht etwa in dem Sinn, daß der Koran diese Handlungen als vom Sirk erfunden betrachtet und sie aus irgendeinem Grunde (etwa als Kompromiß mit den musrikun, um diese für sich zu gewinnen) übernimmt und im Sinn der neuen Botschaft modifiziert. Nein! Sondern die Überzeugung ist vielmehr - und das ist von entscheidender Bedeutung - daß das Hagg-ritual bereits als Gottesdienst ( (ibada) von Gott (Allah) angeordnet worden ist. Die musrikun haben - so die koranische Überzeugung - das reine, als Gottedienst vorgeschriebene Ritual in den Dienst ihrer Götter und ihres Tribalismus gestellt; daher muß es wieder davon befreit und zu der ursprünglichen Form zurückgeführt werden. Dazu eine der wichtigsten Koranstellen: "Und als wir den Abraham an der Stätte des Hauses (al-masgid al-haram) angewiesen haben: ‘Geselle mir nichts bei und reinige mein Haus [demnach müßte das Haus bereits vor Abraham bestanden haben; er wird dazu aufgefordert, es zu reinigen] für diejenigen, die den Umlauf (tawaf) vollziehen, und für die, die aufrecht stehen (qiyam), sich verneigen (ruku ) und sich niederwerfen (sugud) [die drei wesentlichen Handlungen des täglichen rituellen Gebets], und ruf unter den Menschen zur Wallfahrt auf (al-hagg), so werden sie zu dir kommen zu Fuß und auf vielen Kamelen, die aus jedem tiefen Paßweg daherkommen, damit sie (nebst ihres Gottesdienstes) allerlei Nutzen für sich erfahren und den Namen Gottes (Allah) an den bekannten Tagen über dem erwähnen, was Er ihnen an Herdenvieh [Opfertiere] beschert hat. Eßt davon und gebt den Notleidenden und Armen zu essen. Dann sollen sie (durch rituelle Reinigung) ihre Ungepflegtheit beenden, ihre Gelübde erfüllen und zum Umlauf (tawaf) um das altehrwürdige Haus (al-bayt al- atiq) geführt werden.[...]Erlaubt ist euch das Vieh [d.h. der Genuß eigener Opfertiere, was die Sirk-Vorschriften verboten hatten], außerdem, was euch [s.u. 5.3] bekannt gemacht wird. So meidet den Greuel der Götzen und meidet die falsche Aussage (Lüge) als Anhänger des rechten Glaubens gegenüber Gott (hunafa‘), die ihm nichts beigesellen" (22:26-29,30). Besonders auffällig ist die Bestätigung zweier weiterer wichtiger Kultstätten, der zwei Hügel, bei denen die musrikun (so Ibn Hisam) je einen Götzen zur Verehrung aufgestellt hatten, as-Safa und al-Marwa als ‚Kultsymbole Gottes" (2:158). Zu den weiteren Hagg-Riten aus der Sirk-Zeit, die vom Koran bestätigt, abgelehnt oder modifiziert werden, vgl. 2: 124-135 und 196-203; 5:1-2; 22:36-37. Von entscheidender Wichtigkeit ist die Rolle Abrahams, der als hanif gegen den Widerstand der musrikun das "altehrwürdige Haus" von den Sirk-Elementen reinigen soll. Wie alt nun dies altehrwürdige Haus sein mag und welchen Zweck es erfüllt, darüber die koranische Überzeugung: Das erste Haus, das für die Menschen errichtet wurde, ist gewiß dasjenige in Mekka; voller Segen ist es und Rechtleitung für die Weltenbewohner" (3:95). Über das Ausmaß von Abrahams Wirken und Erwartung heißt es schließlich: "Und als Abraham dabei war, die Grundmauern des Hauses hochzuziehen, er und Isma il. Sie sagten: ‘Unser Herr, nimm es von uns an [...] mache uns beide Dir ergeben (muslimin) und aus unserer Nachkommenschaft eine Gemeinschaft, die Dir ergeben ist (umma muslima)" (2: 127f.) In diesen Koranstellen werden Phänomene angesprochen, die in dem dargebotenen Zusammenhang eine brisante historische Tragweite signalisieren: Zweifelsohne handelt es sich einerseits um Erscheinungen, die 1. dem arabischen Raum entstammen, Mekka spezifisch sind, 2. das Wesen des Sirk bestimmen, 3. sich in einer modifizierten Form zum Wahrzeichen des Islam entwickelten und 4. somit die koranische Zeit und den koranischen Geist in einem wesentlichen Punkt mit der Zeit und dem Geist "davor" zu einer geschichtlichen Einheit zusammenbündeln. Auf der anderen Seite läßt der Koran keinen Zweifel daran, daß er sich selbst als Bestätiger dessen, was vor ihm (an Schriften) vorhanden war, begreift (2:97; 3:3; 6:92). In aller Eindeutigkeit ordnet er Muhammad als Nachfolger Mose und Jesu in die Reihe der großen israelitischen Propheten ein, mit dem Vorzug, daß er diese Prophetenkette als letzter abschließt. Es ist aber - historisch gesehen - so gut wie sicher, daß keiner aus dieser Prophetenkette je mit den spezifisch arabischen Erscheinungen: Mekka, Ka‘ba, al-masgid al-haram und den damit verbundenen Riten usw. zu tun gehabt hat, weder im Sinn von Sirk noch n einem monotheistischen Sinn. Die musrikun hätten sich sonst wohl darauf bezogen und sich so legitimiert. Das gibt zu einer grundsätzlichen Frage Anlaß: Wie kann die israelitische Prophetenkette arabisch sein, damit Muhammad als letzter diese Reihe abschließt? Anders gefragt, wie kann Muhammad als Araber, mit klar arabischer, wohl vornehmer Abstammung, als ein israelitischer Prophet fungieren? Folgende Analyse mag eine Erklärung geben:
3.4.1 Monotheismus als Urreligion
Nach koranischer Überzeugung ist al-bait al-atiq "das altehrwürdige Haus" Gottes die Geburtsstätte des Monotheismus; es ist die Geburtsstätte der Urreligion. Damit untrennbar verbunden ist die Person Abrahams als sein Baumeister bzw. Erneuerer. Aus der Abrahamgeschichte lässt sich schlußfolgern, daß dieses Haus Gottes immer wieder in der Gefahr stand, von anderen Göttern und Götzen als "Teilhaber" Gottes heimgesucht zu werden. Abraham wird, nachdem er in seiner Gottgläubigkeit geprüft und zu einem absoluten Vorbild (2:124) gemacht wurde, beauftragt, das Haus vom Sirk zu reinigen und es fürderhin davor zu bewahren. Er hat die Aufgabe, das Haus für gottesdienstliche Handlungen der Gläubigen einzurichten. Durch ihn wird das Fundament für eine Reihe gottesdienstlicher Handlungen gelegt, Rituale, die im Haus, um das Haus herum und außerhalb davon stattfinden; durch sie wird das Verhältnis des Menschen zu seinem Schöpfergott geregelt. Es handelt sich um eine Religion, die ausschließlich auf den einen Gott gerichtet ist und in der Sprache des Koran "Islam", d.h. "Hingabe an Gott", genauer: "Anbetung des einen Gottes" heißt. Zu dieser Kennzeichnung der Urreligion als "Islam" kommen noch weitere Merkmale hinzu:
Ihre Anhänger sind hanif "Aufrichtiger" und gair musrik "kein musrik". Dies müßten diejenigen Personen (auch unter den Schriftbesitzern, vgl. 98:5) und Gruppen gewesen sein, die an dieser Haltung festhielten. Das sind vornehmlich Bewohner der Stadt Mekka gewesen, aber auch andere. - Nach alledem ist jeder Monotheist, jeder, der keinerlei Teilhaber an der Sphäre des einzigen Gottes zuläßt, Muslim und Hanif.
3.4.2 Die abrahamitische Tradition
Den koranischen Angaben zufolge (vor allem über die Nachkommen Abrahams, die seinem Vorbild gefolgt sind) müßte sich die entsprechende Tradition auch außerhalb von Mekka lange gehalten haben. Ebenso müßte das "altehrwürdige Haus" und dessen heilige Umgebung längere Zeit als einzige Stätte hautnaher Begegnung mit dem einzigen Gott und der Repräsentation des Eingottglaubens auf der Erde fungiert haben. Doch müßte in der Folge, wie immer zu fürchten stand, irgendwann das Haus und der umgebende Heiligtumskomplex von Göttern und Götzen heimgesucht und dem Sirk entsprechend auch als Wohnstätte der "Teilhaber" angesehen worden sein - im Einklang mit dem Tribalismus. Sirk hätte ohne Festhalten an diesem Heiligtumskomplex und ohne die dazugehörigen Riten (Hagg) keine allgemeingültige Legitimation, keine Vertrauen erweckende Anziehungskraft, keinen die Generationen überdauernden Bestand und keine Fähigkeit gehabt, das tribalistische Leben einheitlich zu formen. Ebenso hätte der Tribalismus ohne Bindung an diese heiligen Stätten und ohne die entsprechenden Riten (Hagg) weder die Autorität gehabt, im Falle den einzelnen Stamm übergreifender Angelegenheiten Entscheidungen zu treffen, noch die Macht, diese durchzusetzen; er hätte keine Garantie bieten können, daß die Regeln des tribalen Systems eingehalten werden und hätte keine Möglichkeit gehabt, aus der zersprengten Vielheit - wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, die heiligen Monate - eine friedliche Volkseinheit zu machen.
Exemplarisch dafür sei auf den unverletztlichen Bezirk "al-masgid al-haram" und auf die heiligen Monate eingegangen, welche die örtliche und zeitliche Grenze zwischen Krieg und Frieden festlegen, was auch vom Koran anerkannt wurde. "Sie [die Muslime] fragen nach dem heiligen Monat, nach dem Kampf in ihm. Sag: ‘Der Kampf in ihm ist schwerwiegend[es Vergehen]‘." (2:217). Der Vers bezieht sich auf den kriegerischen Einsatz einer übereifrigen Gruppe von Muslimen am ersten Tag des heiligen Monats. Die Empörung der musrikun über die Verletzung ihres heiligen Monats, die Verunsicherung und das Unverständnis der Muslime (=ehemalige musrikun) gegenüber dieser Überschreitung und die sich daraus ergebende Frage, ob die Unantastbarkeit des heiligen Monats aufgehoben sei oder fortbestehe, und schließlich die verständnisvolle Erwiderung des Koran gegenüber dieser Erregung: All das zeigt, wie stark die Hagg-Rituale und die damit zusammenhängenden Vorschriften das Leben, Fühlen und Denken der musrikun geprägt hatten und weiterhin bestimmten.
Die Wirkungsmacht des Hagg-Komplexes weist auf die Existenz eines umfassenden Ordnungssystems hin, zu dem der Hagg als ein wichtiger Teil zählte. Die Großen und Häupter von Mekka verfügten über ein Bündnis, dessen Aufgabe darin bestand, Ungerechtigkeiten zu unterbinden, die schwächeren Pilgern widerfahren können. Dies fand auch die Unterstützung Muhammads vor seiner Berufung (Ibn Hisam, Bd. 1, 5. 125). Dazu ist auch ein Kampf zu rechnen, der gegen eine Gruppe geführt wurde, die den heiligen Monat durch Mord verletzt hatte‘4. Dabei soll Muhammad seinen Onkeln Pfeile zugereicht haben.
Alles spricht dafür, daß die musrikun sich an einer sari a orientierten, wodurch sie sich den Juden und Christen gegenüber als Besitzer einer selbständigen Ordnung behaupten konnten. Die Schriftbesitzer ihrerseits mussten sich sogar der Sirk-Ordnung wegen ihrer Verknüpfung mit dem Tribalismus unterwerfen. Die Bündnisse zwischen den jüdischen und den großen arabischen Stämmen in Medina sowie zwischen Juden und Qurais in Mekka (dort vor Göttern) sind nur einzelne Beispiele dafür. Die musrikun waren der Überzeugung, daß sie eine gottgewollte Religion besaßen, der jüdischen und christlichen vergleichbar. Gegen diese Überzeugung richtet sich der Koranvers: "Oder haben wir ihnen etwa vorher [vor dem Koran] ein Buch zukommen lassen, an dem sie sich festhalten können?" (43:21; vgl. auch 37:157). Der Koran verlangt von ihnen einen Nachweis der Offenbartheit ihrer Religion; nur so, auch die musrikun sind davon überzeugt, läßt sich die Richtigkeit einer Religion nachweisen. Ihre typische Antwort ist: "Wir haben bei unseren Vätern eine bestimmte Glaubensrichtung vorgefunden, und in ihren Fußstapfen folgen wir der Rechtleitung" (43:22, mk.; 6:147, mk.; vgl auch 2:170; 5:104). Man bewegt sich auf der gleichen Diskussionsebene: Auch die musrikun gehen von der Notwendigkeit eines wahren Weges aus und suchen die Rechtleitung.
[14] yawm al-figar, b.Hisam,Bdl,S. 173-175.
Sie halten es für erforderlich, den Nachweis dafür durch eine Legitimationsquelle zu erbringen; dabei ist für sie das Verhalten der Väter am wichtigsten, eine typisch tribalistische Argumentation (nasab-Prinzip). Die Autorität der Väter ist aber für den Koran nicht annehmbar, da die "Väter nicht [durch einen Propheten oder Gesandten] gewarnt wurden" (36:6, mk.). Die musrikun dagegen blieben dabei, daß Gottes Vorschriften auch ihre Religion bestimmten. "Und wenn sie etwas Schändliches tun, sagen sie: ‘Wir haben es bei unseren Vätern vorgefunden, und Gott hat es uns geboten‘." (7:28, vgl. 16:35, mk.). Die Überzeugung, sich in einer Offenbarungstradition zu befinden, führte sie dazu, die früheren Gesandten anzuerkennen: "Wir werden (an Muhammad) nicht glauben, bis uns das gleiche zukommt, was den (früheren) Gesandten Gottes zugekommen ist" (6:124, mk.). Aus der gleichen Überzeugung heraus wünschen und erwarten sie nur eine Ermahnung gleich der, der Vorfahren" (37:168) zu erhalten (dann würden sie glauben); und sie 4haben bei Gott ihren eifrigen Eid geschworen, sie würden, wenn ein Zeichen zu ihnen käme, sicher daran glauben" (6:109, mk.).
Diese Diskussion fand schon in Mekka statt. Grundlage waren die Kenntnisse, welche die musrikun von Existenz und Wirkung der jüdischen und christlichen Schriften (Thorah und Evangelium) besaßen, und der Wunsch, selbst etwas Gleichwertiges zu bekommen (6:155-157). Sie wollten aber, und das ist wieder tribalistisch gedacht, daß dies durch jemand aus der Mitte ihrer Häupter und Großen verkündet wird: "Wenn doch dieser Koran auf einen mächtigen Mann aus den zwei Städten herabgesandt worden wäre" (43:31; s.o.).
3.4.3 Die musrikun und ihr Uralm Abraham
Die zentrale Rolle, die Abraham als Idealgestalt im Koran in seiner Auseinandersetzung mit den musrikun spielt und das große Ansehen, das er als Urabn der Araber genoß, lassen durchaus auf eine tiefe Verbindung der angesprochenen musrikun mit Abraham schließen. Die Eigenschaft, die Abraham zu einer idealen Figur macht, ist, daß er hanif ist, d.h. im Glauben, Denken und Handeln ausschließlich Gott zugewandt ist und nur ihm angehört. Über die prädikative Zusammenstellung von "Abraham" und 4hanif‘ hinaus ist alles, was im Koran von bzw. über Abraham gesagt wird, eine Demonstration der Haltung eines hanif Wenn es sich um ein Gespräch mit musrikun handelt, wird zur Eigenschaft 4hanif‘ immer auch "gair musrik" ("kein musrik") hinzugesetzt. Im Gespräch mit Schriftbesitzern (98:5) oder bei Verwendung des Wortes "hanif‘ als religiöse Haltung schlechthin (4:125; 30:30) fehlt dieser Zusatz. Die Kombination von ‚)ianif‘ mit "gair musrik" hätte keinen Sinn (daher kommt sie im Gespräch mit Schriftbesitzern nicht vor), wenn die Angesprochenen nicht davon ausgegangen wären, daß Abraham wie sie andere Mächte und Kräfte neben dem einzigen Gott in seine Lebens- und Glaubenssphäre einbezogen hätte. Die musrikun sahen ihren "monotheistischen sirk" in der abrahamitischen Tradition verankert und waren überzeugt, er sei ihnen über Generationen von Vater zu Sohn weitergegeben worden.
Die musrikun hätten dafür, daß ihre sirk-sari a letztlich auf Abraham zurückging, keine bessere Bestätigung haben können, als daß der Hagg und die Hagg-Rituale als abrahamitisch eingeordnet wurden. Diese Rituale wurden nach deren Reinigung vom Sirk zum großen Teil vom Koran und von Muhammad übernommen. Daneben wurden auch andere frühere Bestimmungen übernommen‘5. Dies alles kann als Hinweis darauf gewertet werden, daß die musrikun überzeugt gewesen sind, über eine sari a zu verfügen, erhalten und gepflegt von ihren Großen und Häuptern als "Hütern des Kults", mit der sie abrahamitische Traditionen fortsetzten. Insofern war der Hagg eine Demonstration: Er zeigte die Macht des Sirk als Lebensform, des Tribalismus als dessen Geltungsgarantie, und er zeigte die Einheit des arabischen Volkes einschließlich der Schriftbesitzer.
[15] Diese "übernommenen, akzeptierten" Bestimmungen heißen in islamischer Rechtssprache "al-alikam al-imda‘iyya".
Für die Verbindung der herrschenden sari a der musrikun mit Abraham spricht auch die Existenz einer Reihe von Sirk-Kritikern, die sich als eigentliche hunafa‘, als eigentliche Fortsetzer der abrahamitischen Lehre verstanden haben 16. Diese Suchenden haben sich genauso wenig wie die musnikun weder vom jüdischen noch vom christlichen Glauben überzeugen lassen; denn Juden und Christen konnten von ihrer geschichtlichen Entwicklung her nicht in der Lage sein, die in Mekka praktizierte sari a von Sirk und Tnibalismus aus deren eigener Logik heraus zu kritisieren, zu modifizieren und durch höhere und sicherere Werte zu ersetzen: Sie hätten zuvor die tiefe Verbundenheit der musrikun mit Abraham als ihrem Urahn zerbrechen müssen. So scheiterten sie immer wieder am hohen nasab-Wert Abrahams, den sie als Juden oder Christen nicht mit tragen konnten (vgl. 2:135). Isma il als zweiter Urahn spielte - wie auch der Koran in der Erzählung von der Errichtung bzw. Reinigung der Ka’ba betont (s.o.) - die entscheidende Rolle. Im Gegensatz dazu konnte sich Muhammad in die abrahamitische Tradition in zweierlei Weise einordnen: Abraham war sowohl Urheber des Monotheismus (religiöse Überzeugung) als auch Urahn (tribale Logik).
4. Abraham: Maß eines radikalen geschichtlichen Wandels
4.1 Was wäre aus Arabien, aus den dort lebenden Arabern, Juden, Christen, Anhängern anderer Religionen, was aus ihrem Verhältnis zueinander und zu den Nachbarländern (Byzanz, Iran, Jemen, Ägypten), was aus der Weltgeschichte überhaupt geworden, wenn nicht der Koran und Muhammad unter den Arabern aufgetreten wären? Das kann man heute unmöglich erraten.
Es geht hier nicht darum, auf die damaligen festgefahrenen Strukturen, auf die vorherrschenden Fehden und Kriege innerhalb und außerhalb Arabiens einzugehen. Es geht vielmehr darum, auf die historisch bedeutsamen Ansätze im Koran und somit auf den Beginn eines neuen Kapitels in der Weltgeschichte hinzuweisen.
Der Koran geht - entsprechend seiner Zielsetzung - von zwei voneinander getrennten Kategorien von Menschen aus, welche zwei entgegengesetzte Fronten bilden. Auf der einen Seite stehen die Musnikun, auf der anderen Seite die Ein-Gott-Gläubigen: die Juden, Sabäer, Christen, "Magier" (Zoroastnier) sowie die "Gläubigen" (mu ‘minun) (22:17; vgl. 2:62; 5:69). Das Hauptanliegen des Korans ist es, die Musnikun vom Sirk abzubringen und gleichzeitig eine Einheit unter den Ein-Gott-Gläubigen zu bewerkstelligen. Hierfür setzt der Koran dort an, wo seiner Überzeugung nach die Geschichte des Ein-Gott-Glaubens begonnen hat: bei Abraham. Der Koran setzt Abrahams Glauben als einen kraftvollen Hebel für die Umwälzung der Geschichte an. Um die Zugehörigkeit zu Abraham (und Abrahams zu ihnen) stritten sich nämlich Juden, Christen und Musnikun. An ihm suchten sie alle ihre Identität zu messen, zu bestimmen, ihre Legitimität zu begründen. Die Einstellung des Koran dazu ist schlicht:
‚Abraham war weder Jude noch Christ [...] Er gehörte auch nicht zu den Musnikun" (3:65-67). Keine der drei Gruppen kann ohne weiteres Abraham für sich in Anspruch nehmen. Er besaß nämlich einen reinen Glauben, d.h. einen, der von all den üblichen umstrittenen Elementen frei war, "er war ein ergebener Haniü‘. Für den Koran bildet diese Überzeugung Abrahams, seine absolute Gottergebenheit (Islam), als eine geschichtliche Realität den Ansatz dafür, die Verbindung von Arabern, Juden und Christen mit Abraham neu zu bestimmen. So will er ihnen eine neue Identität und der Geschichte einen neuen Impuls geben. Dies tut der Koran auf zweierlei Art und Weise: einmal speziell auf Araber als Nachkommen Abrahams und Isma‘ils zugeschnitten und zum anderen an universalen Grundsätzen orientiert.
4.2 Abraham - unbestrittene Autorität, Urgroßvater des arabischen Volkes
Für das arabische Volk gilt (2:124-136), daß Abrahams Überzeugung, sein Islam, in direktem Zusammenhang steht mit dem Bau der Ka‘ba, mit ihrer Reinigung von Götzen durch
16 Vgl. Ibn Hisam, Bd. 1., S. 215 - 223; Bd. 2, S. 227 - 239; sowie ...al-gaba, Bd. 2, S. 178).
ihn und Isma‘il sowie mit ihrer Bitte um Vorgabe derjenigen Rituale, die, die Ka‘ba betreffen. Der Koran führt den Arabern vor Augen, daß Abrahams Ein-Gott-Glaube von Anfang an eng mit der Ka‘ba und den entsprechenden Riten verbunden ist, welche nun die Araber als Mittelpunkt ihres Sirk-Kultes pflegen.
Eine unmittelbare und tiefe Verbindung mit dem arabischen Volk stellt das folgende Bittgebet der beiden dar: "Und mach, Herr, daß wir [Ibrabim und Isma‘il] dir ergeben (muslim) sind und (mach) Leute aus unserer Nachkommenschaft [von den Arabern] zu einer dir ergebenen Gemeinde (umma muslinza)" (...?). Somit ist der Islam der Araber im Voraus durch Abraham bestimmt; dies geht auch aus einer anderen Koranstelle hervor (22:78), in der insbesondere betont wird, ihnen sei in religiösen Dingen nichts Bedrückendes auferlegt worden. Die Araber, so könnte man schließen, sind doch durch ihre eigenen Hagg-Riten, die sie ohnehin mit Abraham in Verbindung bringen, mit (einigen) Grundzügen der neuen Religion schon vertraut gewesen; sie müssen insofern mit ihrer eigenen Tradition nicht brechen. Tribalistisches Denken würde vielmehr verlangen, daß sie als die Nachkommen Isma‘ils nun ihren Ahnen folgen, den Sirk-Kult aufgeben und den Ein-Gott-Glauben ihres Vorfahren annehmen. Weiter müßten sie die zerstörerischen Seiten des Tribalismus beiseite stellen und sich zu einer übergreifenden Gemeinschaft, getragen eben vom Glauben Abrahams, zusammenfinden. Auch dies war dem arabischen Volk nicht völlig fremd, jedes Jahr in den heiligen Monaten, im heiligen Bezirk wurde es praktiziert.
Damit nicht genug. Der koranisch entscheidende Punkt für den arabischen Identitätswechsel ist folgendes Bittgebet Abrahams und Isma‘ils: "Und laß, Herr, unter ihnen [den Nachkommen der beiden] einen Gesandten aus ihren eigenen Reihen auftreten, der ihnen deine Verse vorträgt, sie Schrift und Weisheit lehrt und sie [von der Unreinheit des Sirk] läutert" (2:129). Zweifellos meint der Koran Muhammad; mit seinem Auftreten wäre somit auch die Erwartung der Musrikun in Erfüllung gegangen. Denn er war es, der unmittelbar in die Nachfolge Abrahams eingetreten ist, als sein direkter Erbe beauftragt, das Gotteshaus Ka‘ba. wie Abraham vor ihm, von den 4beigesellten" Gottheiten zu befreien; er war beauftragt, die Ka‘ba-Riten als Mittelpunkt des reinen Glaubens, des Glaubens Abrahams, wiederherzustellen. Damit war es den Arabern möglich, nun als Besitzer der reinen Religion ihres Vorfahren Abraham ihre Überlegenheit über Juden und Christen zu formulieren (22:78; 6:157; 35:42).
Historisch gesehen hätten ~a1~ die Schriften, Gesandten, Propheten usw., die mit der Ka‘ba und dem Hagg nicht in Verbindung standen, bei den Arabern keinen Erfolg haben können. Für sie hätte die Aufgabe der Ka‘ba und des Hagg in jeder Hinsicht die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage bedeutet. Im Gegensatz dazu bot der Koran alle Voraussetzungen für die Annahme des neuen Glaubens. Dazu war kein wesentlicher Bruch mit entscheidenden Teilen der arabischen Tradition erforderlich: Mekka, die Ka‘ba und ihre Riten, die heiligen Monate, der heilige Bezirk, das Leben in tribalen Strukturen mit den dazu gehörigen Asabiyya-Phänomenen, die eigene Schrift und die eigene Sprache - dies alles brauchten die Araber, sie brauchten ihre Identität nicht aufzugeben. Sie mußten, so der Koran, auf ihre ursprüngliche, abrahamitische Identität zurückgehen, deren zwischenzeitlich durch Sirk verwandeltes Wesen entsprechend gereinigt werden mußte. Dies bedeutete allerdings eine erhebliche Umstellung; und die neue Religion, mit Abrahams Gott als Zentrum einer neuen Lebensform, hat in der Tat binnen 23 Jahren den Arabern eine neue Identität und ihrer Geschichte ein noch nie da gewesenes Bewußtsein verschafft. Auch wenn die Araber in keiner anderen Weise zu gewinnen gewesen wären als über ihren Vorvater Abraham, die vom Koran von Anfang an bevorzugte Autorität (87:18-19, mk.), bedeutet dies nicht, daß der Koran Abraham als nur den Arabern zugehörig auffaßt. Dies ist Gegenstand des nächsten Abschnittes.
4.3 Abraham - Brücke zwischen Musrikun und Schriftbesitzern
Einigen Berichten zufolge soll Muhammad bei der Säuberung der Ka‘ba von den dort befindlichen Götzenbildern auch Bilder von Abraham, Jesus und Maria an den inneren Mauern vorgefunden haben‘7. Dies spräche gegebenenfalls u.a. für eine Beziehung von Christen zum zentralen Heiligtum des Sirk-Kultes und für eine lange Verbindung der Musrikun mit Christen. Dies wird dadurch unterstrichen, daß Jesus und Maria bereits in frühen Suren vorkommen (43:57-59, mk. und "Surat Maryam", Nr. ). Auf das frühe Auftreten von Mose und Abraham mit ihren "Schriften" ist schon hingewiesen worden (87:17-19, s.o.). Dies - und eine große Anzahl weiterer Koranstellen - belegt (entgegen vieler unhaltbarer apologetischer Thesen) zum einen, daß Juden und Christen schon in Mekka unter den Gesprächspartnern Muhammads waren, und zum anderen, daß im Milieu der Musrikun, in dem diese Gespräche stattfanden, durchaus eine Empfänglichkeit für derlei vorhanden war. Streitgespräche mit den ‚ "Leuten der Schrift", Christen und Juden, sollen, so der Koran, "nie anders als auf möglichst gute Art" (29:46f.) geführt werden. Es geht nicht um die Überwindung von Judentum und Christentum (in der Art, wie es um die Überwindung des Sirk geht): Der Koran formuliert vielmehr die ursprüngliche Einheit des Ein-Gott-Glaubens als Religion Abrahams. Dies gipfelt in der bereits angeführten Passage, Abraham sei weder Musrik noch Christ noch Jude gewesen (2:133-141, s.o.). Muhammad selber war überzeugt, daß er als Araber und damit Nachkomme Abrahams dessen Tradition fortführte, als einziger die beiden Traditionen in sich vereinigte.
4.4 Abraham - die Wende in der Religionsgeschichte
Entgegen mancher Annahmen beschränkte sich der geistige Horizont der arabischen Musrikun nicht auf ein von der übrigen Welt abgeschnittenes Beduinenleben. Die geopolitische Lage der Araber zwischen Iran, Byzanz und Äthiopien, ihre Betroffenheit von den langwierigen Machtkämpfen zwischen diesen Großmächten, hatten sicherlich für einen weit über die arabischen Grenzen hinausreichenden Horizont der einflußreichen Araber gesorgt. Das politische Schicksal dieser Länder war für die Araber von so großer Bedeutung, daß der Koran mitten in der mekkanischen Zeit dazu Stellung bezogen hat: ‚Die Byzantiner sind besiegt worden im nächstliegenden Gebiet [in Syrien oder Palästina]. Aber sie werden, nachdem sie besiegt worden sind, [ihrerseits] siegen, in etlichen Jahren. Gott steht die Entscheidung zu. [So war es] von jeher und [so wird es auch] künftig [immer sein]. An jenem Tag [wenn den Byzantinern der Sieg zufällt], werden die Gläubigen sich darüber freuen, daß Gott geholfen hat" (30:2-5). Es fällt auf, daß der Koran nicht einfach berichtet, er geht vielmehr zugunsten der Byzantiner wertend auf die Ereignisse ein. Woran hat das gelegen? Wir wissen es nicht. Auf alle Fälle beweist es das lebenswichtige Interesse der Araber für internationale Verhältnisse.
Den Arabern, Musrikun und Muslimen, dürfte es daher nicht befremdlich oder abwegig erschienen sein, wenn der Koran sich als eine Botschaft begreift, die nicht nur an Araber, nicht nur an Juden oder Christen, sondern an alle Welt gerichtet ist (vgl.34:28; 21:107). Ist dies eine rein religiöse Verkündung? Oder hat es eine historische Bedeutung? Der Koran versteht sich als Offenbarung einer Überzeugung; als solche hat er ein neues Kapitel in der Weltgeschichte eingeleitet. Dabei verwendete er für sein Welt- und Geschichtsbild, aber auch für die Erklärung konkreter Erscheinungen in seinem Umfeld, metahistorische Mittel, Überzeugungen, die über die Denk- und Glaubensebene der vorhandenen Religionen hinausgingen. Eben hierbei bot sich die Gestalt Abrahams an. Der Streit uni ihn, nämlich darum, wem er und wer ihm am nächsten steht, wurde zugunsten einer ‚~reinen Religion" beantwortet, mit einem historisch nicht nachweisbaren, sehr wohl aber wirksamen Argument. Für den Koran ist nämlich - das ist das metahistorisch zentrale, tragende Element - die Religion Abrahams eine jedem Menschen von seiner Erschaffung her mitgegebene seelische Formung
17 Ibn Sa‘d Bd. 3, S. 183.
und Gestalt (2:135-138); an die Nachkommen Abrahams, an die Propheten überhaupt ergeht die göttliche Weisung zur Wahrung, Pflege und Entfaltung dieser jedem Menschen mitgegebenen Gabe. Dieser metahistorische anthropologische Ansatz ist nicht etwa in Medina zwecks Konfliktlösung zwischen unterschiedlichen Ansprüchen der Musrikun und der Schriftbesitzer an Abraham entstanden. Bereits in Mekka geht der Koran auf diesen anthropologischen Grundsatz ein, und zwar mit dem Ziel, die Unhaltbarkeit des Sirk zu demonstrieren und an dessen Stelle die Verbindlichkeit der einzigen Macht- und Entscheidungsquelle zuzusichern: ‚Richte nun dein Antlitz auf die [einzig wahre] Religion als Hanif! [Das ist] die natürliche Art (fitra), in der Gott die Menschen erschaffen hat. Die Art und Weise, in der Gott [die Menschen] geschaffen hat, kann man nicht abändern. Das ist die richtige Religion" (30:30). Demzufolge ist Abrahams Religion die Offenbarung dessen gewesen, was keimhaft im geschaffenen Wesen des Menschen vorgegeben ist. Damit setzt der Koran ein neues Zeichen:
Dies war weder in der jüdisch-christlichen noch in der Sirk-Tradition bekannt. Religion und Religionsgeschichte wären demnach anders zu bestimmen, als es aufgrund der anderen semitischen Religionen üblich war. Fassen wir die koranische Äußerung "Abraham war weder Jude noch Christ" als ein historisches Zeugnis auf; so bedeutete dies eine Absage an jüdisches und christliches Religionsverständnis. Diese Absage ist bedingt durch die einmalige Situation, in der sich der Koran befand, nämlich zwischen zwei völlig wesensfremden Abraham-Traditionen. Das wichtigste Anliegen des Koran war von Beginn an die Bekämpfung des Sirk-Kultes. Dem nur auf das Diesseits gerichteten Kult fehlte das für die Schriftreligionen wichtigste Phänomen, der Begriff Sünde. Ihm fehlte gleichfalls der Glaube an Jenseits und jenseitigen Lohn und Strafe. Die Belastung der Seele und ihre Entlastung durch Reue, Erlösung oder ihre Reinigung durch Askese waren den Musrikun unbekannt, sie waren überhaupt kein religiöses Anliegen. Das wichtigste, ja fast einzige Phänomen, das allerdings schon vor Muhammad und dem Koran im Mittelpunkt der Kritik stand, war Sirk, die das ganze Volk erfassende, die unvermeidbare Lebensform, welche die Kritik als das größte Übel geißelte. Sirk war in jedem Individuum so verwurzelt, daß es Orientierungslosigkeit, ja Lebensunfähigkeit bedeutet hätte, ihn aufzugeben, wenn nicht höherer Ersatz geschaffen würde. Nur eine direkte, existentielle Verbindung mit der höchsten Macht- und Willensquelle konnte jedem Individuum Sicherheit und Lebenskraft verleihen. Daß der Mensch von seiner geschaffenen Natur her gottausgerichtet ist, ist für den Koran die Lösung gewesen. Eine solche existentielle Verbundenheit mit Gott läßt keinen Raum für Belastungen der Seele durch Sünde, die das Gegenteilige, nämlich Ferne von Gott, bewirkt. Hätte der Koran andererseits nämlich, ohne den Sirk-Kult zu überwinden, die Vorstellung von Sünde und Heil als Ausgangsbasis für die Bekehrung der Musrikun gewählt, so wären Sirk-typische Ideen von Vermittlung verstärkt zurückgekehrt; denn die Vermittler dienten gerade dazu, die Entfernung zum Hochgott Allah zu überwinden (39:3).
Die Religionsgeschichte ist Offenbarungsgeschichte: Offenbart wird der Ein-Gott-Glaube, wie von Abraham demonstriert. Da jeder Mensch in seiner Erschaffenheit für diese Offenbarung empfänglich ist, müßte folgerichtig jedem Volk eine solche Offenbarung zuteil geworden sein. Das ist in der Tat die Auffassung des Korans (16:36, mk.). Demnach ist die Religion Abrahams Inhalt der Gesandtschaft an jede menschliche Gemeinschaft gewesen. Auf dieser metahistorisch-anthropologischen Grundlage wird die schon in Mekka begonnene Begegnung mit Christen und Juden in Medina fortgesetzt. Die medinensische Geschichte in ihren friedlichen Zügen ist die Umsetzung dieser Überzeugung.