Und wenn es in dem Hymnus heißt: "mit zu deinem alten Vater", so könnte ein flüchtiger Leser auf den Gedanken kommen, es handle sich bei dem Adjektiv 'alt' um ein bloßes Füllwort, das Goethe eingefügt hat, um den rhythmischen Fluss des Verses aufrecht zu erhalten. Nun stimmen zwar auch beim arabischen Wort für 'der Alte', 'Al-Qadîm', wiederum die Überlieferungen nicht darin überein, ob es zum Kanon der hundert schönen Beinamen Gottes zu rechnen sei oder nicht. In der Tradition der islamischen Mystik spielt der Begriff 'Al-Qadîm' jedoch allemal eine große Rolle: Er bedeutet den zeitlos oder anfangslos Ewigen, im Gegen¬satz zum Erneuerten oder Neuen, d.h. im Gegensatz zu dem, was geworden ist, nachdem es vorher nicht war. 'Al-Qadîm', 'der Alte' hat keinen Anfang oder ist vor dem Anfang. Er existiert außerhalb der geradlinigen Zeit.
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Meine These, dass die Goethe-Forscher und Biographen bisher einen wichtigen Aspekt seiner Werke, nämlich den islamischen, im Dunkeln gelassen haben, bis dieser durch Katharina Mommsen mit ihrer Pionierarbeit, "Goethe und die arabische Welt" bzw. mit "Goethe und der Islam" zum ersten Mal umfassend gewürdigt wurde, möchte ich an einem weiteren Beispiel illustrieren. Wenn, wie bekannt, der 3. Akt von Goethes Faust II als Tragödie der Helena bekannt ist, dann weiß jeder nur halbwegs Gebildete, wer Helena war. Wer jedoch das neben dem Faust II bedeutendste Alterswerk Goethes, den "West-östlichen Divan" kennt, dem ist zwar zweifelsohne geläufig, dass das umfangreichste Buch in dieser Gedicht¬sammlung und die darin gepriesene Geliebte den Namen Suleika trägt. Aber Hand aufs Herz: Wer kann auf Anhieb sagen, woher dieser Name stammt und weshalb Goethe diesen für sie gewählt hat? Und mit welchem Jussuph hat das etwas zu tun? – wenn es in dem folgenden Gedicht heißt:
Daß Suleika von Jussuph entzückt war,
Ist keine Kunst;
Er war jung, Jugend hat Gunst,
Er war schön, sie sagen: zum Entzücken,
Schön war sie, konnten einander beglücken.
Aber daß du, die so lange mir erharrt war,
Feurige Jugendblicke mir schickst,
Jetzt mich liebst, mich später beglückst,
Das sollen meine Lieder preisen:
Sollst mir ewig Suleika heißen.
Nun, zunächst einmal handelt es sich bei diesem Jussuph um niemand anderen als um den Joseph, den wir aus der Josephs-Geschichte der Bibel kennen, und die war Goethe von Kindheit an vertraut. Ja, er hat, wie wir aus "Dichtung und Wahrheit" wissen, als Knabe sogar einen Josephs-Roman verfasst, der uns jedoch nicht überliefert ist. Als während des siebenjährigen Krieges Frankfurt von den Franzosen besetzt war, hat der im Goetheschen Elternhaus einquartierte, kunstliebende Graf Thoranc sich von dem damals zwölfjährigen Goethe dazu anregen lassen, beim Frankfurter Maler Trautmann eine Serie von neun Bildern zu bestellen, in welcher die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern und Joseph in Ägypten dargestellt ist. Bei seiner ersten Lektüre des Koran muss Goethe überrascht gewesen sein zu sehen, dass darin eine ganze Sure, die zwölfte, der Josephs-Geschichte gewidmet ist, und Gott am Anfang derselben den Propheten mit den Worten anspricht: "Erzählen wollen Wir [Gott] dir [Mohammed] die schönste der Geschichten durch die Offenbarung dieses Korans; siehe, zuvor warst du achtlos auf sie." In dieser Sure stößt man auf eine Szene, die wir von der Bibel her nicht kennen, durch welche die blendende Schönheit Josephs und deren lebhafte Wirkung auf die Frauen für uns augenfällig gemacht wird. Von daher hat die Schön¬heit Josephs für die Muslime einen sprichwörtlichen Charakter angenommen, d.h. wenn man etwa im Arabischen die Schönheit eines menschlichen Wesens bezeichnen will, sagt man "djamîl ka Yussuf", "schön wie Joseph".
Aber wer war nun Suleika? Eine für wohl die meisten von uns überraschende Antwort auf diese Frage finden wir in dem Kommentar zu dem Verspaar 11 f. der Gasele Elif VIII aus dem Diwan des Hafis, von dessen Übersetzer Josef v. Hammer. Die beiden Verszeilen des Gedichts von Hafis lauten:
Jusufs berauschende Schönheit erklärt den Zauber der Liebe,
Welcher zerrissen den Flor bei Sulicha ...
Der Übersetzer Josef v. Hammer fügte die Erklärung hinzu:
Sulicha oder Suleicha, Potifars Gemahlin in den orientalischen Romanen, die in des ägyptischen Josephs Geschichte nichts als die unwiderstehbare Macht der Schönheit des Mannes aufs Herz des Weibes darzustellen suchen.
Aus der biblischen Tradition von 1. Mose 39 erfahren wir nur etwas über eine "Potiphars Weib" benannte Frau, deren Namen dort verschwiegen, die uns aber als ein lüsternes Wesen von fragwürdigem Charakter geschildert wird. Dagegen führt die islamische Tradition sie aus dieser Anonymität heraus, gibt ihr den Namen Suleika und erhebt ihre Liebesbeziehung zu Joseph zum Symbol der entsagenden Liebe.
Unter Goethes Lektüre-Notizen vom Frühjahr 1815 finden sich mehrere Aufzeichnungen, die sein Interesse für die Geschichte Suleikas bekunden. So notierte er aus dem in den Fundgruben des Orients in Fortsetzung erschienenen Roman des persischen Dichers Dschami - Jussuf und Suleika - die folgenden Motive, in denen Suleika im reinen Licht der Unschuld erscheint:
Suleicha träumt und sieht einen verklärten Jussuf, verliebt sich, klagt für sich, schweigt. Verkommt. Amme dringt. Sie gesteht. Amme vertrauts dem Vater... Suleicha sieht den Jussuf zum zweiten mal im Traum. Wird wahnsinnig auf ein Jahr.
In der Bibliothèque orientale hatte er über Jussuph und Suleika lesen können:
Die Musulmanen .... bedienen sich oft ihrer Namen und ihres Vorbilds, um das Herz der Menschen zu einer höheren als der gemeinen Liebe zu erheben, da sie behaupten, daß diese beiden Liebenden nichts anderes seien als das Sinnbild der treuen Seele, die sich durch die Liebe bis zu Gott erhebt.
Goethes orientalistischer Berater in Berlin, Heinrich Friedrich von Diez, hatte bereits 1811 im ersten Band seiner ”Denkwürdigkeiten“ (S. 30) über den persischen Dichter Dschami (1414-1492) geschrieben:
Im Koran findet sich ein eigenes Kapitel, das zwölfte an der Zahl, unterm Namen Jussuf oder Joseph, wo von der Liebe der Zuleicha, Tochter des Pharao und Gemahlin des Potiphars, gegen Joseph, Sohn Jacobs, geredet wird. Da diese Liebe aus dem Anblick der großen Schönheit Josephs entsprungen sein soll und ohne große sinnliche Befriedigung geblieben: so wird sie von den Mohammedanern als ein Muster keuscher, obgleich brennender Liebe vorgestellt, welche zur Liebe gegen Gott geführt haben soll, weil man hinzudichtet, daß Zuleicha sich am Ende zum wahren Glauben bekehrt habe. Dies hat zum Roman Gelegenheit gegeben, welcher unterm Namen >Jussuf und Zuleicha< von Dschami im Persischen geschrieben worden. Die Liebe wird darin als die Neigung zu allem Schönen, Guten und Edeln vorgestellt und soll sich durch Betrachtung der sinnlichen Schönheit am Menschen wie an andern belebten und unbelebten Wesen zur Liebe und Anbetung des Schöpfers aller Schönheit erheben, so daß man die Liebe gegen die Schönheit der Geschöpfe als das Mittel zur Liebe gegen die Schönheit des Schöpfers ansieht.
Zum Schluss möchte ich mich einem der bekanntesten, wenn nicht gar beliebtesten Gedichte Goethes zuwenden, und einigen weiteren Gedichten aus dem "West-östlichen Divan", die damit im Zusammenhang stehen. Wer kennt aus dem Divan nicht das Gedicht mit dem Titel "Selige Sehnsucht" im "Buch des Sängers"? Wer aber weiß, dass dieses Gedicht einen Leitgedanken der islamischen Mystik, des Sufismus, zum höchsten Ausdruck bringt? Wer hat nicht schon soundso viele Male die geheimnisvollen Schlussverse dieses Gedichts zitieren hören: "Und solang du das nicht hast..." Wer weiß jedoch, dass der Gedanke des "Stirb und werde!", ausgehend von einem dem Propheten Mohammed zugeschriebenen Ausspruch: "Sterbt, bevor ihr sterbt!", die ganze islamische Mystik durchzieht wir ein roter Faden? Und wer von den vielen Lesern dieses Gedichts, die inzwischen, seit dessen Entstehung, wohl in die Millionen gehen, hat verstanden, dass darin, obwohl der Name des Allerhöchsten nicht ein einziges Mal genannt wird, von der Sehnsucht nach Gott die Rede ist?
Nur wer es mit den Augen eines im Koran bewanderten Muslims liest, wird dies erkennen können: Die Bewegung des ganzen Gedichtes ist ausgerichtet auf das Licht. Dies aber ist einer der schönen Beinamen Gottes, welcher in der Litanei des muslimischen Rosenkranzes die 93. Stelle einnimmt, und zwar aufgrund von Vers 36, dem sogenannten Lichtvers, aus der 24. Sure, die ihrerseits um dieses Verses willen den Titel En-Nûr, Das Licht, trägt. Goethe kannte ihn aus der Hammerschen Übersetzung (in den Fundgruben des Orients, Bd.3, S.253), er lautet dort:
Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist wie ein Fenster an der Wand, worinnen eine Lampe brennt, mit Glas bedeckt. Daß Gott glänzt wie ein Stern; die Lampe wird entzündet vom Oele eines gebenedei¬ten Baumes. Kein östliches, kein westliches Oel; es leuchtet dem, wem er will. Gott giebt den Menschen Gleichnisse. Er ist Allwissend.
Aus der Verehrung für Gott als dem Licht hat sich ein zentrales Motiv des Sufismus entwickelt, nämlich die Vorstellung von der mystischen Vereinigung mit Gott und geistigen Wiedergeburt, gleichnishaft dargestellt am Schmetterling, welcher der Flamme zustrebt und in ihr verbrennt. Annemarie Schimmel hat mehrfach auf einige solcher Beispiele hingewiesen. Als erster hat, wie sie erklärt, der in Bagdad im Jahre 922 wegen Ketzerei auf die grausamste Weise hingerichtete Mystiker al-Halladj in seinem Kitâb at-tawasin dieses Gleichnis verwendet, in (von ihr übersetzten) Passagen wunderbarer arabischer Reimprosa, die von philosophischen Erörterun¬gen unter¬brochen werden:
Der Falter fliegt um das Kerzenlicht, bis der Morgen anbricht,
und kehrt zu seinesgleichen zurück,
Berichtet ihnen von dem Zustand des Glücks mit lieblichem Wort,
Dann vereint er sich mit der anziehenden Schönheit
Begierig, zur Vollkommenheit zu gelangen.
Darauf folgt, laut Annemarie Schimmel, die mystische Inter¬pretation: Das Licht der Kerze ist das Wissen von der Wirklichkeit, ihre Wärme die Wirklichkeit der Wirklichkeit, das Gelangen zu ihr die Wahrheit der Wirklichkeit. Dann aber kehrt al-Halladj zum Gleichnis des Schmetter¬lings zurück:
Er begnügt sich nicht mit ihrem Licht,
Mit ihrer Wärme nicht, und wirft sich ganz hinein,
[...]
Wer zur Schau gelangt, bedarf nicht mehr der Kunde,
Wer zum Geschauten gelangt, bedarf nicht mehr der Schau.
Am Schluss ihres Buches Die Zeichen Gottes. Die religiöse Welt des Islam (München 1995, S. 313) zitiert Annemarie Schimmel einen Text des 1273 in Konya gestorbenen Mystikers Djelâladdîn Rumi aus seinem Werk Fîhi mâ fîhi (deutsch von A. Schimmel: Von allem und vom Einen, Köln 1988), in welchem das Gleichnis vom lichtbegierigen Falter des Halladj wieder auftaucht:
[...] Der wahre Mensch [ist] einer, der niemals von Bemühung frei ist, der ruhelos und unaufhörlich um das Licht der Majestät und Schönheit Gottes kreist. Und Gott ist es, der den Menschen verbrennt und ihn zunichte werden lässt - und kein Verstand kann Ihn erfassen.
Goethes mystische Denkweise unterscheidet sich allerdings in einem Punkt wesentlich von derjenigen, die sich in obigen Texten spiegelt. In den Noten und Abhandlungen erläutert er, wie schon oben erwähnt, die Rubriken, nach welchen man die im Buch der Parabeln des Divan in dichterische Form gefassten ethischen Grundsätze des Orients einteilen könne. Als vierte Rubrik benennt er den "eigentlichen Islam, die unbedingte Ergebung in den Willen Gottes, die Überzeugung, daß niemand seinem einmal bestimmten Lose ausweichen könne", und er spricht von einer fünften, "...welche man die mystische nennen müßte: sie treibt den Menschen aus dem vorhergehenden Zustand, der noch immer ängstlich und drückend bleibt, zur Vereinigung mit Gott schon in diesem Leben und zur vorläufigen Entsagung derjenigen Güter, deren allenfallsiger Verlust uns schmerzen könnte." Für den alten Goethe ist die Entsagung ein zentrales Motiv seines Denkens und seiner Dichtung. Es ging ihm dabei jedoch nicht um Askese im Sinne einer diesseits¬feindlichen Abtötung des Fleisches. Eine solche wäre seiner Naturfrömmigkeit zuwider gelaufen. Er sah Entsagung, im Sinne von Selbst¬beschränkung und Ergebung in das von Gott bestimmte Schicksal, als notwendigen Teil des Strebens nach einem erfüllten Dasein schon in diesem Leben. Damit entfernt er sich keineswegs grundsätzlich aus dem Umkreis islamischer Mystik: Im Koran selbst, wenn darin auch wiederholt von einem Jenseits die Rede ist, das mit Höllenstrafen für die Ungläubigen einerseits und Belohnungen für die Gläubigen andererseits aufwartet, werden die Menschen doch immer wieder dazu angehalten, bereits im Diesseits, das heißt in der Natur, die Zeichen Gottes zu erkennen und sich daran zu freuen und ihren Nutzen daraus zu ziehen. Auch die kleinste Naturerscheinung ist nicht zu gering, als dass man darin nicht ein Gleichnis für das geheimnisvolle Wirken Gottes sehen könnte. Schon der junge Goethe hatte besonderen Gefallen gefunden an jener Koranstelle, dem Vers 26 der 2. Sure, in welcher von einer Mücke die Rede ist, und die (in der Übersetzung von J. v. Hammers in den Fund¬gruben des Orients) folgendermaßen lautet:
Es scheut sich nicht der Herr ein Gleichnis euch zu geben, von einer Mücke oder von dem was darüber ist. Die da glauben wissen, daß es Wahrheit von ihrem Herrn ist; die es aber nicht glauben sagen: Was will der Herr mit diesem Gleichnis.