5.7 Ungerechtfertigte Besitzergreifung bzw. Beschlagnahme
Wer gewaltsam bzw. unrechtmäßig fremdes Eigentum an sich nimmt, beschlagnahmt oder aber
aus dem Besitz anderer, auch wenn er diesen nicht als Eigentum betrachtet, profitiert und dessen
Ergebnisse – z.B. die Ernte – für sich nutzt, begeht damit Unrecht. Derlei ist Diebstahl, Raub
oder Plünderung. So sagen Gewissen und Vernunft und selbstverständlich auch das
Religionsgesetz.
Von einer ungerechtfertigen Besitzergreifung und dergleichen ist dann zu sprechen, wenn
fremdes Gut an sich genommen bzw. im eigenen Interesse genutzt wird. Das heißt ohne, dass
Kauf und Verkauf, Vereinbarung, Miete, Pacht oder eine Erlaubnis und Berechtigung dazu
vorliegen.
Es versteht sich von selbst, dass derartiges niedrig und des Menschen nicht würdig ist. Dass es
Unrecht ist, wenn gegen Besitz und Eigentumsrecht anderer verstoßen wird. Wie negativ sich so
etwas auf Wohl und Fortschritt des einzelnen und im Endeffekt auf die Gesellschaft auswirkt, ist
kein Geheimnis...
Wenn ein jeder hingehen und unberechtigt, illegal, fremdes Eigentum an sich nehmen wollte, so
gäbe es in der Bevölkerung keine Ruhe und Sicherheit mehr. Wenn die Mächtigen und Starken
ungehindert Hand an die Habe der Schwächeren legen könnten, um ihnen das zu nehmen, was sie
im Schweiße ihres Angesichts erarbeiteten..., wenn ein solches Denken und Verhalten in einer
Gesellschaft Fuß fassen würde, griffen in dieser nicht nur chaotische Verhältnisse und
Unsicherheit um sich, sondern ginge letztendlich die Menschlichkeit des Menschen dadurch
verloren. Denn ganz abgesehen davon, dass die Schwächeren von den Stärkeren ausgenutzt und
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ausgebeutet würden, gerieten erstere zudem in ihrer Ausweglosigkeit in die Gefahr, vor dem
Unrecht zu kapitulieren und die Starken als „Herren“ anzuerkennen. Eine Art „moderner
Götzenkult“ entstünde. Ganz abgesehen davon, dass die entrechteten Schwachen die Noch-
Schwächeren ebenfalls unter Druck setzen und „versklaven“ würden. Mit dem Resultat, dass die
menschliche Gesellschaft schließlich nichts anderes mehr darstellte als ein gewaltiger
Menschenmarkt, als ein Bazar, in dem mit Menschen gehandelt wird. Dass sämtliche
menschenwürdigen Gesetze und Regelungen ihren Wert verlören und Ungerechtigkeit und roher
Gewalt das Feld überließen.
Aus diesem Grunde hat der Islam sehr harte Bestimmungen, mit denen einem solchen
Gesellschaftselend vorzubeugen ist, erlassen und Raub, Plünderung, d.h. jegliche
ungerechtfertigte Inbesitznahme bzw. Beschlagnahme als großes Vergehen bekannt geben, das zu
verhindern und zu ändern ist.
Laut Koran und Sunna besteht für jedes Vergehen gegen das „Recht des Erhabenen Gottes“ (Haq
u llah) – mit Ausnahme von „Schirk“107 – die Möglichkeit, dass Gott Nachsicht walten lässt und
verzeiht. Bei jedem Verstoß gegen das göttliche Gebot, selbst im Zusammenhang mit „Schirk“,
kann durch „Tawbah“108 die göttliche Vergebung erreicht werden.
Ein Vergehen an den „Rechten der Menschen“(Haq un Nas) wird jedoch anders beurteilt als ein
Verstoß gegen die Rechte Gottes. Dazu zählen selbstverständlich auch Raub, Plünderung,
ungerechtfertigte Inbesitznahme. Wer sich dessen schuldig macht, braucht auf die Gnade Gottes
nicht zu hoffen..., es sei denn, derjenige, dem er Unrecht zufügte, würde ihm verzeihen.
5.7.1 Einige Bestimmungen dazu...
1. Der Dieb hat unverzüglich das Gestohlene dem rechtmäßigen Eigentümer
zurückzugeben..., wenn dieser nicht mehr lebt, dessen Erben. Wenn diese Rückerstattung
auch zu großem Verlust führen sollte, wenn beispielsweise gestohlene Ziegelsteine oder
Eisenstangen zum Bau eines Hauses verwendet wurden, so ist das Gebäude soweit zu
zerstören, bis das Diebesgut aus ihm entfernt werden kann. Es sei denn, der Bestohlene
würde Nachsicht walten lassen und sich mit einer Abfindung zufrieden geben.
Stiehlt jemand zum Beispiel Weizen und vermischt diesen mit Roggen, so hat er den
Weizen fein säuberlich von dem Roggen zu trennen und dem Besitzer zurück zu geben.
2. Wenn das Geraubte zu Schaden kommt, so hat der Dieb es sowohl zurück zu geben als
auch Schadenersatz zu leisten.
3. Verdirbt das Diebesgut, so hat der Dieb dem Bestohlenen den entsprechenden Gegenwert
auszuhändigen.
107 Schirk: Gott andere Gottheiten beisetzen!
108 Tawbah: aufrichtige Reue und Besserung, Umkehr vom Schlechten zum Guten
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4. Wenn mit dem gestohlenen Gut auch Gewinn und Nutzen, den es normalerweise dem
Eigentümer bringen würde, verloren gehen – wenn beispielsweise ein Mietwagen
gestohlen und dieser eine Zeitlang irgendwo in einem Versteck abgestellt wird – so hat
der Dieb sowohl den Mietwagen zurückzugeben als auch den Gewinn, den der
Eigentümer normalerweise erzielt hätte.
Falls das Gestohlene an Wert zunimmt, wenn – angenommen – ein gestohlenes Schaf von dem
Dieb gut versorgt wurde und an Gewicht zugenommen hat, so hat letzterer dennoch keinen Anteil
daran. Er muss es zurückgeben, ohne irgendwelche Ansprüche stellen zu können. Doch wenn es
sich um „separat stehende“ Gewinne handelt, d.h. wenn jemand beispielsweise zu Unrecht in
Besitz genommenes Land bewirtschaftet und zu Erträgen kommt, so hat er das Land als auch eine
Art Wiedergutmachung oder Pacht für das Land, das er eine Zeitlang genutzt hat, dem
Eigentümer auszuhändigen. Die Ernte aber gehört ihm.
5.8 „Vorkaufsrecht“
Wenn zwei Personen gemeinsam ein Haus oder sonstiges unbewegliches Eigentum besitzen und
einer von ihnen seinen Teil verkaufen will, so hat sein Partner Vorkaufsrecht. Das heißt, letzterer
kann den Anteil zu den gleichen Bedingungen, zu denen er einem Dritten verkauft werden würde,
kaufen. Es versteht sich von selbst, dass dieses Vorkaufsrecht, das im Islam dem Partner
eingeräumt wird, so manchen Komplikationen und Konflikten vorbeugt. Wie oft kommt es doch
vor, dass sich das Hinzukommen des neuen Partners zum Verlust des alten auswirkt. Entweder
gehen ihre Ansichten hinsichtlich des gemeinsamen Besitzes auseinander oder aber der alte
Partner – der ja vorkaufsberechtigt ist – würde, wenn er Alleinbesitzer und Alleinbewirtschafter
wäre, weit mehr aus dem betreffenden Objekt profitieren können als mit dem neuen Kompagnon.
Ganz abgesehen davon, dass auch dem verkaufenden Partner kein Schaden daraus entsteht, wenn
er seinen Anteil seinem Kompagnon verkauft, nicht aber einem Dritten.
Dieses Vorkaufsrecht gilt im Zusammenhang mit unbeweglichen Gütern, nicht aber mit
beweglichen..., also nicht, wenn es sich um Geld und dergleichen Werte handelt.
5.9 Bewirtschaften von Brachland
Land zu kultivieren, zu bebauen und aus ihm Erträge zu erzielen – ob es sich nun um Land
handelt, das niemals bewirtschaftet oder aber vor längerer Zeit bereits einmal bebaut, dann aber
brach liegen blieb und nicht mehr genutzt wurde oder aber sumpfiges Gelände ist – wird im Islam
als „gutes Werk“ verstanden.
Abgesehen davon, das dieses Bewirtschaften ungenutzten Bodens – allerdings unter
Berücksichtigung weiterer Faktoren – Anspruchsrecht ermöglicht, wird es in der islamischen
Weltanschauung als ein gottwohlgefälliges Tun bewertet, das sich nicht nur im irdischen Leben,
sondern auch im jenseitigen als „gewinnbringend“ erweist.
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Vom Propheten Muhammad (s.a.a.s.) ist dieses Wort:
Wer brachliegendes Gelنnde urbar macht, hat Anspruch darauf.
Und Imam Sadiq (a.s.) erklärte:
Jene Gruppe oder Gemeinschaft, die Land kultiviert und bewirtschaftet, hat Anspruch
darauf und kann es als das ihre betrachten.
Brachliegendes Land zählt im Islam als Eigentum Gottes, Seines Gesandten und des Imam
(Imam Asr a.s.). Mit anderen Worten, es gehört dem islamischen Staat.
Wenn jemand brachliegendes, besitzloses Gelände bewirtschaften und erwerben möchte, hat er
folgende Grundregeln zu kennen und zu beachten:
Ganz allgemein: Bei mehreren Bewerbern ist dem Vorzug einzuräumen, der sich zuerst darum
bemühte. Wichtig ist zudem folgendes:
1. Die Genehmigung des Imam oder dessen Statthalters ist erforderlich.
2. Es darf von niemandem berechtigt, umfriedet oder abgegrenzt worden sein. (oder
ähnliches)
3. Es darf nicht Land sein, das „unkäuflich“ oder „öffentlich“ ist, wie Bach- oder Flussufer,
Gelände um einen Brunnen bzw. ein „Wasserloch“ herum u.ä.
4. Es darf nicht Gelände sein, das der Öffentlichkeit – wie Straßen, Wege – oder zu
Stiftungen gehört, und auch nicht Grund und Boden betreffen, auf dem eine Moschee
errichtet wurde.
Eine Anmerkung zur Definition des Begriffes „Bewirtschaften oder Urbarmachen von
Brachliegendem“:
Brachliegendes zu bebauen, instand zu setzen oder aber zu bewirtschaften fällt in den
„gewohnheitsrechtlichen“ Sektor. Wenn beispielsweise die Bewohner einer Gegend sagen, „X“
hat dieses oder jenes Gelände urbar gemacht und bewirtschaftet, so bedeutet das, dass „X“ –
unter bestimmten Voraussetzungen – Anspruchsrecht auf den betreffenden Grund und Boden hat.
Das „Bewirtschaften oder Instandsetzen“ richtet sich nach dem, um was es sich handelt.
Ackerland wird gepflügt und bepflanzt, Gebäude werden restauriert, ihr Gemäuer wird z.B.
ausgebessert etc
5. Bodenschätze, die sichtbar und für alle – ohne Bohrungen und Ausgrabungen – erreichbar
sind, sind auch allen zugänglich. Das heißt, ein jeder kann sie nutzen und sich ihrer
bedienen..., in dem Maße, wie er benötigt.
Wenn jedoch besondere Vorkehrungen notwendig werden, um sie hervorholen zu können
– u.a. Bohrungen, Gruben, Schächte und technische Geräte, die z.B. zum Gold- und
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Kupferabbau und ähnlichem notwendig sind – so gehört die Stelle, an dem das Metall
bzw. Mineral hervorgeholt wird, demjenigen, der die erforderlichen Gerätschaften
beschafft und Bohrungen bzw. Ausgrabungen vornimmt.
6. Größere Bäche Wasserläufe sind allgemeines Eigentum. Ebenso Flüsse und Regen- bzw.
Schneewasser, das von den Bergen herunterkommt. Jene, die in der Nähe eines solchen
Wasserlaufes leben, haben Vorrang vor denen, die weiter entfernt wohnen.