Der alte Goethe dichtete dann folgenden Vierzeiler, der in den Nachlassgedichten zum Divan zu finden ist:
Sollt ich nicht ein Gleichnis brauchen,
Wie es mir beliebt?
Da uns Gott des Lebens Gleichnis
In der Mücke gibt.
Das Beispiel aus dem Koran von der Mücke als einem Gleichnis des Lebens führte Goethe zur Allegorie von der geheimnisvoll vom Licht angezogenen Mücke, die darin den Flam¬men¬tod findet. Goethe las in der Zeit, als er an seinem Divan arbeitete, eine Erzählung aus Saadis Baumgarten, worin in volkstümlicher Form jenes Motiv aus der sufischen My¬stik wieder¬gegeben wird, welches wir oben kennengelernt haben: die dem Licht zustre¬bende und in ihm verbrennende Mücke als Sinnbild des Heiligen, der aus Liebe zu Gott, gleichwie in dem Licht einer Kerze, den Leib in Askese opfert, um seine Seele zu retten; und Goethe hielt in seinen Lektüre-Notizen fest: "Die verliebte Mücke".
Wenn aber in der Mücke eine Manifestation Gottes zu sehen ist, warum dann nicht auch in der Geliebten? Schon der 26jährige Goethe hatte diese Gedankenverbindung hergestellt in einem Brief vom 23. Februar 1776 an Charlotte von Stein: "Ich habe nun wieder auf der ganzen Redoute nur deine Augen gesehen – und da ist mir die Mücke ums Licht eingefallen." Nachdem er dann später, im Mai 1814, die Werke des Dichters und Sufi Hafis in der Übersetzung Josef v. Hammers kennengelernt hatte, konnte sich Goethe für seine welt¬bejahende Gottesliebe auf ihn als einen muslimischen Kronzeugen berufen. Denn Hafis hatte in Gasele Nun XV 7 der Allegorie von der Mücke eben die Wendung gegeben, in der Goethe seine eigene Auffassung von Mystik aufs Erfreulichste bestätigt fand:
Wer die Sonne verehrt, hat keine Kunde vom Liebchen,
Schmähst du den Herrn, so schau ihr in die Augen.
Der Übersetzer J. v. Hammer verdeutlichte den Sinn dieser Verse in einer Fußnote: "Dieje¬nigen, welche die Sonne anbeten, kennen meine Geliebte nicht, sonst wür¬den sie sich von der Sonne zu ihr wenden; und wer an Gott nicht glaubt, schaue ihr in die Augen."
In Anlehnung hieran griff Goethe den Anfang seines oben angeführten Vierzeilers wieder auf, pries aber nunmehr im dritten und vierten Vers statt der Mücke die Augen der Geliebten:
Sollt' ich nicht ein Gleichnis brauchen
Wie es mir beliebt?
Da mir Gott in Liebchens Augen
Sich im Gleichnis gibt.
Im Schlussgedicht des Buchs Suleika führt der Divan-Dichter dieses Gleichnis zur höchsten Steigerung, indem er seine Geliebte mit Eigenschaften bedenkt, die an die hundert Namen Allahs im muslimischen Rosenkranz anklingen. "Muslimischer Rosenkranz?" mag da einer fragen. "Ist der Rosenkranz nicht ein ureigen katholisches Utensil?" Aber vergessen wir nicht: der Rosenkranz kommt ursprünglich aus dem Orient und ist erst durch die Kreuzfahrer nach Europa gebracht worden. Und sicher hat jeder von uns schon einmal einen Rosenkranz in der Hand eines Muslims gesehen, vermutlich allerdings ohne zu wissen, was er für diesen bedeutet: Es geht um die Anrufung Gottes mit seinen schönen Namen. Goethe hatte darüber in den Fundgruben des Orients in einem Aufsatz J. v. Hammers gelesen (Band 4, S.160 ff.), dass nach einer islamischen Tradition Gott Namen trägt, welche "die schönen genannt, den Hauptbestandteil aller Beschwörungen, Zauberringe und Talismane" bilden. Neunundneunzig dieser Namen, heißt es, sind im Koran offenbart worden, der einhundertste bleibt verborgen. So bedeuten nach Hammer "die hundert Korallen des mohamme¬danischen Rosenkranzes neun und neunzig Eigenschaften Gottes samt seinem arabischen Namen Allah". Die Tradition geht zurück auf den Vers 180 der siebten Sure des Koran, "Doch Gottes sind die schönsten Namen / Ruft ihn damit, und lasset jene, / Die da missbrauchen seinen Namen; / Gelohnt wird ihnen werden, was sie taten." (Rückert), und auf die Verse 22 bis 24 der neunundfünfzigsten Sure des Koran, welche in der Übersetzung Hammers, die Goethe vorlag, folgendermaßen lauten:
22. Er ist der Herr. Es ist kein Gott als er. Er weiß das Offenbare wie das Verborgene. Er ist Allbarmherzig, und Allgnädig.
23. Er ist Gott der Herr. Es ist kein Gott als er, der Herrscher, der Heilige, der Heilbringende, der Gläubige, der Gute, der Höchste, der Dränger, der Gewaltige. Lob sei Gott über alle die, so sie ihm zur Seite stellen.
24. Er ist Gott der Schöpfer, der Hervorbringer, der Bildner. Er hat schöne Namen. Ihn lobet was im Himmel und auf Erden. Er ist der Höchste, Weiseste.
Die "kanonische Litanei" des islamischen Rosenkranzes beginnt mit: "der Allmilde", "der Allerbarmende", "der Allherrscher", "der Allheilige", "der Allfehlerfreie", "der Allrettende", doch gehen der Anrufung dieser Namen auch furchterregende Attribute voraus wie: "der Allzwingende", "der Allnehmende", "der Allerniedernde", "der Allherabsetzende" usw. Die Vorsilbe "All" ist hierbei allerdings deutsche Zutat. Man fügt diese gewöhnlich im Deutschen hinzu, um die Beinamen Gottes als Attribute des "All"mächtigen zu kennzeichnen und sie von gewöhnlichen, den irdischen Dingen beigelegten Eigenschaftswörtern zu unterscheiden. Im Arabischen mit seiner lakonischen Ausdrucksweise bedürfen die göttlichen Attribute einer solchen Kennzeichnung nicht.
Nur wenn man das Mysterium der hundert Namen Allahs im Islam kennt, versteht man recht eigentlich, mit welcher Kühnheit Goethe dieses Thema in dem Preisgedicht für die Geliebte behandelt, welches den krönenden Abschluss des Buchs Suleika bil¬det:
In tausend Formen magst du dich verstecken,
Doch, Allerliebste, gleich erkenn ich dich;
Du magst mit Zauberschleiern dich bedecken,
Allgegenwärtige, gleich erkenn ich dich.
An der Zypresse reinstem, jungen Streben,
Allschöngewachsne, gleich erkenn ich dich;
In des Kanales reinem Wellenleben,
Allschmeichelhafte, wohl erkenn ich dich.
Wenn steigend sich der Wasserstrahl entfaltet,
Allspielende, wie froh erkenn ich dich;
Wenn Wolke sich gestaltend umgestaltet,
Allmannigfaltge, dort erkenn ich dich.
An des geblümten Schleiers Wiesenteppich
Allbuntbesternte, schön erkenn ich dich;
Und greift umher ein tausendarmger Eppich
O! Allumklammernde, da kenn ich dich.
Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet,
Gleich, Allerheiternde, begrüß ich dich
Dann über mir der Himmel rein sich ründet,
Allherzerweiternde, dann athm ich dich.
Was ich mit äußerm Sinn, mit innerm kenne,
Du Allbelehrende, kenn ich durch dich;.
Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne,
Mit jedem klingt ein Name nach für dich.
In seinem Gedicht Selige Sehnsucht geht Goethe jedoch in der Kühnheit des Gleichnisses, das er darin aufstellt, noch einen Schritt weiter. Die unmittelbare Vorlage für dieses Gedicht findet sich in J. v. Hammers Übersetzung des Hafis, 2, 90 f.: Buch Sad I. Sie lautet:
Wie die Kerze brennt die Seele,
Hell an Liebesflammen
Und mit reinem Sinne hab' ich
Meinen Leib geopfert.
Bis du nicht wie Schmetter¬linge
Aus Begier verbrennest,
Kannst du nimmer Rettung finden
Von dem Gram der Liebe.
Du hast in des Flatterhaften
Seele Gluth geworfen,
Ob sie gleich längst aus Begierde
Dich zu schauen tanzte.
Sieh' der Chymiker der Liebe
Wird den Staub des Körpers,
Wenn er noch so bleiern wäre,
Doch in Gold verwandeln.
O Hafis! kennt wohl der Pöbel
Großer Perlen Zahl¬werth?
Gieb die köstlichen Juwelen
Nur den Eingeweihten.
Dass Hafis der Autor dieses Gedichts gewesen sei, wird zwar bestritten. Letztlich ist diese Frage indes ohne Belang. Goethe jedenfalls hielt es für eines des Hafis, und entscheidend ist für uns, was er aus seiner Vorlage geschaffen hat:
Selige Sehnsucht.
Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebendge will ich preisen
Das nach Flammentod sich sehnet.
In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung
Wenn die stille Kerze leuchtet.
Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.
Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.
Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Wenn Goethes Gedicht sich nur an die "Weisen" wendet, "weil die Menge gleich verhöhnet", so ist dieser Gedanke, wie wir gesehen haben, in der Vorlage bereits in ähnlicher Form ausgesprochen. Was aber auf Puritaner aller Zeiten bei diesem Gedicht besonders anstößig wirken muss, ist die kühne Art, in der Goethe darin den Liebesakt zum Thema macht. Hier sind es nicht mehr nur die schönen Augen der Angebeteten, hier ist es die körperliche Vereinigung des Liebenden mit der Geliebten, durch welche er zum Licht, zur Erkenntnis Gottes gelangt. Das könnte wahrlich für die Menge, die im Liebesakt nur die Befriedigung niedriger Begierden sieht, ein Anlass für Hohn und Spott bieten, wäre der Gedanke hier nicht in so vollendeter dichterischer Sprache verschlüsselt. Für Goethe ist jedoch der Geschlechts¬akt ein Teil des Werdens in der Natur, und die Natur ist für ihn eine Manifestation Gottes! Beim islamischen Mystiker el Halladj (hingerichtet 922) hat die Vereinigung mit Gott, wie wir oben gesehen haben, die Bedeutung der völligen Auslöschung seiner selbst bis hin zum Märtyrer¬tod. Bestimmend bei Goethe ist hingegen das Moment von Polarität und Steigerung durch das Aufgehen im Anderen, in der Geliebten.
Im § 573 seiner Enzyklopädie von 1830 zitiert Hegel voll Begeisterung aus Friedrich Rückerts Übersetzungen der Werke des bereits erwähnten islamischen Mystikers Djelaleddin Rumi (1207-1273), als Beispiel dafür, wie bei ihm "die Einheit der Seele mit dem Einen, auch diese Einheit als Liebe hervorgehoben wird", und zugleich, um "eine Vorstellung von der bewunderungs¬würdigen Kunst der Übertragung des Herrn Rückert" zu geben. Wären Rückerts Übersetzungen nicht erst sieben Jahre nach der Entstehung von Goethes Selige Sehnsucht, nämlich im Taschenbuch der Damen auf das Jahr 1821 veröffentlicht worden, könnte man meinen, das von Hegel zuletzt daraus zitierte Gedicht hätte neben dem des Hafis ebenfalls Goethe als Anregung vorgelegen:
Wohl endet Tod des Lebens Not,
Doch schauert Leben vor dem Tod.
So schauert vor der Lieb' ein Herz,
Als ob es sei vom Tod bedroht.
Denn wo die Lieb' erwachet, stirbt
Das Ich, der dunkele Despot.
Du laß ihn sterben in der Nacht
Und atme frei im Morgenrot.
Wenn man sieht, wie Goethe in seinem Gedicht "Selige Sehnsucht" aus den verschiedensten poetischen Mosaiksteinen, welche für sich genommen schon herrliche Kleinode darstellen, ein in vielen Farben schillerndes Ganzes geformt und damit zu einer vollendeten Einheit verschmolzen hat, so beugt man sich in Ehrfurcht vor der Größe seines Genies.
Einer der Mosaiksteine, die zur Entsehung dieses Gedichts beigetragen haben mögen, lässt sich freilich auch in einem Gleichnis Jesu sehen, in welchem der Gedanke des "Stirb und werde!" bildlich gefasst wird. Goethe war es aus Johannes 12, Vers 24 zweifellos bekannt: "Es sei denn, dass das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt's allein; wo es aber erstirbet, so bringet's viel Früchte." Aber Goethe gebraucht in "Selige Sehnsucht" eben nicht dieses ihm von Kindheit an vertraute Bild, sondern wählt aus der islamischen Mystik das Bild des im Licht sich verzehrenden Falters, und erschließt sich damit, wie oben gezeigt, eine Reihe weiterer metaphysischer Dimensionen. Goethe hat seine Herkunft aus einem christli¬chen Elternhaus und seine klassische Bildung nie verleugnet. Seine Begegnung mit dem islamischen Orients war für ihn jedoch nicht die Entdeckung einer ihm völlig fremden Welt mit exotischem Reiz, sondern zugleich die Begegnung mit Altvertrautem wie eine Erweiterung seines Gesichtskreises.
Wenn er im Divan, auf einen Koranvers gestützt, dichtete:
Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Okzident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.
so können wir darin die bildlich gefasste Bedeutung des von ihm geprägten Begriffs der 'Weltliteratur' wiedererkennen, denn dieser war für ihn nicht schlicht ein neues Wort, das er der deutschen Sprache hinzugefügt hätte, sondern eine programmatische Anweisung zu einem neuen Verständnis der menschlichen Welt. Und wenn wir über Goethes erstaunlich enge Beziehung zur Welt des Islam nachdenken, sollten wir ebenso den Vierzeiler beherzigen, den Goethe während seiner Arbeit an Faust II verfasst hat:
Wer sich selbst und andre kennt,
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen."