Wie bereits erwähnt, stehen zahlreiche Suren und Verse hinsichtlich ihrer Offenbarung mit Ereignissen und Begebenheiten der damaligen Zeit in unmittelbarem Zusammenhang, so z.B. die Suren “Die Kuh“, “Die Versammlung“ und “Die Laufenden“.[1]
Die Offenbarung einiger Suren entsprach der Notwendigkeit, Klarheit über die rechtlichen Entscheidungen und Gesetze des Islam zu schaffen. So z.B. die Suren “Die Frauen“, “Die Beute“, “Die Scheidung“ usw..[2]
Diese Voraussetzungen, die zur Offenbarung der Suren und Verse führten, heißen Veranlassungen der Offenbarungen. Bei der Sinndeutung der Verse ist es von großer Bedeutung, die Bedingungen zu kennen, unter denen sie offenbart worden sind. Aus diesem Grunde hat sich eine große Schar von Überlieferungswissenschaftlern unter den Gefährten des Propheten und ihrer Nachfolger in der frühislamischen Zeit mit den Überlieferungen über die Veranlassungen der Offenbarungen befasst und zahlreiche Überlieferungen darüber überliefert. Sie sind in der Mehrzahl von den Sunniten überliefert worden, etwa einige Tausend. Die diesbezüglichen schiitischen Überlieferungen sind nicht mehr als einige Hundert.
Nicht alle diese Überlieferungen sind richtig und lückenlos verbürgt. Im Gegenteil, viele von ihnen sind schwach und lückenhaft. Bei näherem Betrachten bestätigt sich der erste Verdacht zunehmend:
1. In den meisten Fällen ist aus dem angewandten Verfahren ersichtlich, dass der Überlieferer den Zusammenhang zwischen der Überlieferung und der entsprechenden Veranlassung nicht etwa aus persönlichem Gespräch und Erlebnis oder aus eigenem Gedächtnis kennt bzw. herstellt, sondern eine Geschichte erzählt und die dazu passenden qur´anischen Verse mit ihr in Beziehung setzt. Daher ist die Offenbarungsveranlassung, die in einer solchen Überlieferung angegeben wird, eher eine theoretische und spekulative Veranlassung als eine, die auf dem Wege der Erfahrung und Aufzeichnung zustande gekommen ist. Eine Bestätigung für diesen Sachverhalt sind die vielen sich widersprechenden Veranlassungen. Vielen Qur´anischen Versen werden mehrere Veranlassungen zugeschrieben, die sich widersprechen und gegenseitig ausschließen. Es sind sogar von derselben Person, z.B. Ibn Abbas, mehrere unterschiedliche Veranlassungen für ein und denselben Vers überliefert worden.
Der Grund, warum diese sich widersprechenden und fehlerhaften Offenbarungsveranlassungen aufgenommen worden sind, kann entweder darin liegen, dass sie nicht überliefert, sondern eher theoretischer Natur sind und dass jeder Überlieferer aus der Fülle der sich widersprechenden Überlieferungen gerade die passende alternative Geschichte herausgesucht und sie einem bestimmten Vers als Veranlassung zugeschrieben hat, oder aber darin, dass der Überlieferer, der zwei sich widersprechende Veranlassungen überliefert hat, sich mit zwei gegensätzlichen Ansichten auseinanderzusetzen hatte, wobei er sich erst später für die zweite Ansicht entschieden hat, oder darin, dass alle oder Teile davon gefälscht sind. In welcher Weise sich auch diese Vermutungen bestätigen mögen, werden die Überlieferungen über die Offenbarungsveranlassungen ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Dann nutzt es auch nichts, dass die Überlieferung lückenlos tradiert ist, denn eine lückenlose Überlieferungskette bestätigt oder schwächt zwar die Vermutung über die Unwahrhaftigkeit der Überlieferer, doch der Verdacht einer ursprünglichen Fälschung bleibt trotzdem bestehen.
2. Es ist glaubhaft überliefert worden, dass die Kalifen[3] in der frühislamischen Zeit strengstens verboten hatten, die Prophetenüberlieferung zu sammeln und aufzuzeichnen. Wo auch immer solche Aufzeichnungen auftauchten, ließen die Kalifen sie beschlagnahmen und verbrennen. Dieses Verbot blieb bis zum Ende des ersten Jahrhunderts nach der Auswanderung, also etwa 90 Jahre, bestehen.
Dieses Verfahren führte dazu, dass die Überlieferer und Traditionsgelehrten die betreffenden Aussagen nur sinngemäß überlieferten. Die anfänglich unbedeutenden Veränderungen, die die Aussagen jeweils bei weiterer Überlieferung erfuhren, häuften sich im Laufe der Zeit dermaßen, dass der ursprüngliche Sinn verlorenging. Dies wird erst recht deutlich, wenn die gleiche Geschichte oder Aussage über verschiedene Überlieferungsketten überliefert worden ist. Es gibt Überlieferungen, die angeblich die gleiche Geschichte erzählten, jedoch kaum Gemeinsamkeiten aufweisen. Gewiss, der exzessive Gebrauch von der sinngemäßen Überlieferung hat zum Verlust oder zumindest zur Verminderung der Glaubwürdigkeit der Veranlassungsliteratur geführt. Kommen zu den sinngemäßen Überlieferungen und den erwähnten Widersprüchen noch die Fälschung, insbesondere die sogenannte Israiliyyat[4] und die Überlieferungen, die von den unbekannten Heuchlern erfunden worden sind, hinzu, so wird die Literatur über die Offenbarungsveranlassungen völlig unglaubwürdig.
[1] Die Sure “Die Kuh" (2.) wurde im ersten Jahr nach der Auswanderung in Medina offenbart. Ein Teil der Verse beinhaltet Vorwürfe gegen die Juden, die den Fortschritt des Islam hemmten. Andere betreffen religionsrechtliche Entscheidungen, wie z.B. die Änderung der Gebetsrichtung, das Vorschreiben des Fastens, der Pilgerfahrt usw.. Die Sure “der Streit“ (58) betrifft die Umsiedlung des jüdischen Stammes Banu Nadhir, und die Sure “Die Laufenden" (100) bezieht sich auf die Araber der Wadi Yabis und ihresgleichen.
[2] Die Sure “Die Frauen“ [an-nisa] (4) behandelt die Heirat und die Erbschaft der Frauen, die Sure “Die Beute“ [al-anfal] (8) ist über die Kriegsgefangenen und die Kriegsbeute und die Sure “Die Scheidung" [al-talaq] (65) über die Scheidung.
[3] Gemeint sind die ersten drei Kalifen, die entgegen Imam Alis Hinweisen dieses Verbot aufrecht erhielten. Erst als er selbst Kalif wurde, gab es eine kurzzeitige erste Lockerung, die nach seinem Martyrium durch hofgenehm erfundene Überlieferungen der machthungrigen umayyadischen Kalifen verwässert wurde.
[4] Gemeint sind Überlieferungen, die von Juden erfunden wurden, die unter dem Islam ihre Herrschaftsstellung verloren hatten.
source : الشیعه