5.Das islamische Recht ( Schariaa)
" Gottes ist die Herrschaft der Himmel und der Erde und dessen, was zwischen ihnen ist. Und Er hat Macht über alle Dinge ." ( Sure 5, Vers 120 )
Im Zuge der Berichterstattung der westlichen Medien über die islamische Bewegung und das Wiedererstarken des Islam in den islamischen Ländern ist der Begriff Schariaa mittlerweile zu einem recht bekannten und leider auch negativ besetzten Begriff geworden. Kaum jemand kennt jedoch seine wirkliche Bedeutung.
5.1. Was bedeutet Schariaa ?
Die Bedeutung läßt sich aus der Gesamtheit des islamischen Weltbildes herleiten. Kern der islamischen Lehre ist "Tauhid" (Einheit Gottes), der reine Monotheismus. Der Muslim bekennt, dass es nur einen einzigen Gott gibt, Der alles Sein erschaffen hat und die Schöpfung erhält leitet und entwickelt.
In dieser Schöpfung hat Gott Gesetzmäßigkeiten erschaffen, die eine harmonische und geordnete Entwicklung der Schöpfung gewährleisten :
"Hast du denn nicht gesehen, dass Gott die Nacht in den Tag übergehen läßt und den Tag übergehen läßt in die Nacht und dass Er die Sonne und den Mond dienstbar gemacht hat, so dass jedes seine Bahn läuft zu einem bestimmten Ziel, und dass Gott wohl kundig ist dessen, was ihr tut?." ( Sure 31, Vers 29 ).
Der Mensch nimmt in dieser Schöpfung eine besondere Stellung ein, die als "Statthalterschaft Gottes auf Erden" (vgl. Sure 2, Vers 31 ) bezeichnet wird, da der Mensch von Gott mit besonderen Fähigkeiten ausgezeichnet worden ist, die es ihm ermöglichen, Macht über andere Teile der Schöpfung auszuüben. Diese Fähigkeiten schließen jedoch eine hohe Verantwortung des Menschen mit ein, da ihr Mißbrauch sowohl der Menschheit, als auch der übrigen Schöpfung immensen Schaden zufügen kann.
5.2. Weg zur Gottergebenheit :
Der mit einem freien Willen ausgestattete Mensch braucht also eine Rechtleitung, die ihm den Weg des rechten Gebrauches seiner Fähigkeiten weist, damit er diese zum Nutzen der Menschheit und der übrigen Schöpfung entfalten kann. Diesen Weg nennt der Islam Schariaa, denn Weg (zur Wasserquelle ) ist die wörtliche Übersetzung dieses arabischen Wortes.
Aufgezeichnet wird uns dieser Weg durch den Qur'an, d.h. die unverfälschte Offenbarung Gottes und durch die vorbildliche Handlungsweise Seines Propheten Muhammad (Gott segne ihn und seine Familie ), die auf arabisch Sunna ( Brauch, normatives Verhalten ) genannt wird.
Prophet Muhammad (Gott segne ihn und seine Familie ) stellt, wie auch alle Gesandten vor ihm, ein vortreffliches Beispiel für einen gottergebenen Menschen :
" Wahrlich, ihr habt an dem Propheten Gottes ein schönes Vorbild für jeden, der auf Gott und den letzten Tag hofft und Gottes häufig gedenkt." ( Sure 33, Vers 20 ).
Diese beiden Quellen zeigen dem Menschen einen Weg auf, der es ihm ermöglicht, im Einklang mit der göttlichen Schöpfungsordnung zu leben und seine Fähigkeiten zu entwickeln, so dass er ein wahrer Diener Gottes wird. Dieser Weg befindet sich daher auch in vollkommener Übereinstimmung mit der Vernunft, die im Islam als notwendiges Instrument zum Verständnis der Schariaa betrachtet wird. Die Schariaa ist also ein allumfassender Weg, der den Menschen zu Gott führt und ihm zugleich aufzeigt, wie Gottergebenheit praktisch verwirklicht werden kann.
5.3.Welche Bereiche umfaßt die Schariaa ?
Diese Frage wird eigentlich schon mit der Frage nach der Bedeutung der Schariaa beantwortet. Da der Islam die Unterwerfung unter den einzigen Gott bedeutet und die Schariaa der Weg ist, der den Menschen zu Gott führt, indem er ihn zeigt, wie man Gottergebenheit verwirklicht, ist es einleuchtend, dass die Schariaa alle Bereiche und Aspekte des menschlichen Lebens umfaßt.
Diese Formulierung bedarf einer genaueren Erläuterung, da sonst der falsche Eindruck entstehen könnte, es handle sich um ein einschränkendes Zwangssystem, das den Menschen reglementieren und beschränken möchte.
Die Schariaa als ein umfassendes und vor allen Dingen auch unteilbares System ist zwar ein Reglungssystem, jedoch kein Zwangssystem. Es ist vielmehr ein durch die Vernunft bestätigtes, einleuchtendes System. Die Schariaa ist deswegen umfassend und unteilbar, weil auch Gott allumfassend und unteilbar ist. Er ist allgegenwärtig und allmächtig, und Seine Herrschaft umfaßt alle Dinge.
Frieden und Gerechtigkeit können daher nur erreicht werden, wenn der Mensch bereit ist, sich in allen Bereichen des Lebens den göttlichen Normen zu unterwerfen, deren Sinn eben nicht die Unterdrückung des Menschen sondern die Wahrung seiner Würde und die Entwicklung seiner Fähigkeiten.
5.4.Unteilbares Rechtssystem
Die Schariaa umfaßt das gesamte menschliche Leben auf der individuellen Ebene von der Frage des richtigen Gebetes bis hin zur Frage der Wahl des Staatspräsidenten auf der gesellschaftlichen Ebene. Sie beschränkt sich dabei auf das Notwendige, denn sie ist immer zweckgebunden : sie soll den Menschen zu seinem eigentlichen Herrn führen und ihm eine harmonische Ordnung geben.
Die Schariaa ist vor allen Dingen eine Einheit, die nicht zerstückelt werden kann, ohne dass sie ihrer Identität beraubt wird. Die Normen der einzelnen Rechtsgebiete sind aufeinander abgestimmt und ergänzen einander, so dass man die Schariaa nicht mit anderen Rechtssystemen kombinieren kann, ohne dass sie dabei Schaden erleidet und ihrer Funktionsfähigkeit beraubt wird. Vor allen Dingen aber ist sie nicht statisch. Sie ist im Gegenteil dynamisch und verlangt stets die Berücksichtigung der aktuellen Gegebenheiten und Umstände der Zeit und des Ortes, an dem man sich befindet.
Aus der Schariaa praktische Rechtsnormen abzuleiten, ist daher Aufgabe der islamischen Rechtswissenschaft.
5.5.Islamische Rechtswissenschaft
Die Schariaa als solche ist noch kein vollständiges Rechtssystem. Deshalb wäre es falsch, sie mit dem islamischen Recht oder gar Strafrecht gleichzusetzen. Sie ist vielmehr die Quelle der islamischen Rechtswissenschaft, aus der die islamischen Juristen faktische Rechtsnormen entwickeln. Zwar enthält auch die Schariaa praktische Rechtsnormen, doch um eine solche Abteilung vollziehen zu können, bedarf es der Einsicht in die Schariaa, weshalb das islamische Recht als Figh, d.h. Einsicht, bezeichnet wird.
Das Ableiten der Rechtsnormen aus der Schariaa wird Idschtihad ( wörtlich : Anstrengung ) genannt. Dieser Idschtihad ist die eigentliche Aufgabe des islamischen Rechtsgelehrten, denn durch ihn wird die Dynamik des islamischen Rechts, seine Fortentwicklung und Anpassung an die sich verändernden Gegebenheiten der Zeit gewährleistet. Eine solche Aufgabe kann jedoch nicht ohne wirkliche Einsicht, also ohne ein tiefes und umfassendes Verständnis der Schariaa, bewältigt werden.
5.6.Dynamische Rechtsentwicklung :
Prophet Muhammad (Gott segne ihn und seine Familie ) hat immer die Entscheidung getroffen, die den göttlichen Normen entsprechend somit auch von der menschlichen Vernunft problemlos nachvollziehbar gewesen ist. Der islamische Jurist hat insbesondere die Aufgabe, diesen Sinn der Entscheidungen des Propheten herauszufinden und ihn dann auf die Probleme seiner Zeit zu übertragen. Während also manche praktische Entscheidungen in der Schariaa zeitgebunden sind, muß es die Aufgabe der islamische Juristen sein, durch Idschtihad die hinter diesen Entscheidungen stehenden zeitlosen Prinzipien der Schariaa zu ergründen, um auf diese Weise die mannigfaltigen Probleme zu lösen, mit denen die Menschen konfrontiert werden.
Zur Bewältigung dieser Aufgabe stehen dem islamischen Juristen als Instrumente u.a. die Vernunft (arabisch : Agl = und der Konsens der kompetenten Gelehrten ( arabisch idschma ) zur Verfügung. Durch diese Hilfsmittel ist es möglich, die zeitlichen Prinzipien der Schariaa zu ermitteln und somit das islamische Recht dynamisch fortzuentwickeln.
5.7.Geltungsbereich der Schariaa :
Die Schariaa ist grundsätzlich nur für den Muslim verbindlich, d.h. Angehörige anderer Religionen unterliegen auch in einem islamischen Staat nicht dem islamischen Recht. Nichtmuslimen wird in einem islamischen Staat aufgrund der Schariaa Rechtsautonomie gewährt. Sie können ihre rechtlichen Angelegenheiten autonom regeln, so dass die Schariaa nur bei Streitigkeiten zwischen Muslimen und Nichtmuslimen herangezogen wird. Wobei auch hier die Schariaa vorschreibt, auch die Rechtsvorstellung der Nichtmuslime zu berücksichtigen.
5.8.Anwendung der Schariaa :
Wie jedes andere Rechtssystem kann auch die Schariaa mißbraucht und zweckentfremdet werden. Es existiert kaum eine Phase in der Geschichte der islamischen Länder, in der von einer völligen Praktizierung der Schariaa gesprochen werden könnte. Meistens wurde die Schariaa von diktatorischen Herrschern mißbraucht, die diese verfälschten, zweckentfremdeten oder schlichtweg nicht beachteten. Auch heute noch versuchen viele Regime, die angeblich die Schariaa praktizieren, unter dem Deckmantel der Religion die Menschen zu unterdrücken, während damals wie heute viele islamische Rechtsgelehrte ihr Eintreten für eine wirkliche Befolgung der Schariaa mit dem Tod, Folter oder Verfolgung bezahlen müssen.
Die Schariaa kann jedoch nur dann ihren Zweck wirklich erfüllen, wenn einerseits die Menschen bereit sind, ihr zu folgen, und andererseits genügend aufrichtige Rechtsgelehrte vorhanden sind, die bemüht sind, den objektiven Sinn der Schariaa zu ermitteln, und sich nicht den Machtinteressen der Herrschenden beugen.
Die Muslime sind sich heute in immer stärkerem Maße bewußt, dass die Lösung ihrer vielfältigen Schwierigkeiten von ihrer eignen Bereitschaft abhängt, die Schariaa zu verwirklichen. Schon aus diesem Grunde kann man keinem Volk die Schariaa aufzwingen. Sie kann nur dort praktiziert werden, wo die Menschen die aufrichtige innere Bereitschaft haben, ihr Leben auf dem Weg zu beschreiten, den die schöpferische Weisheit ihnen durch die Schariaa aufgezeigt und geebnet hat :
" Wahrlich, Gott ändert die Lage eines Volkes nicht, solange sie ( die Menschen) nicht das ändern, was in ihnen ist." (Sure 13, Vers 12 ).