Die religionswissenschaftlichen Studien, die zurzeit von den Muslimen betrieben werden, sind zweifellos erst nach der Berufung des Propheten und der Offenbarung des Qur´an, die die göttlichen Erkenntnisse und die religiösen Gesetze mit sich brachten, entstanden.
Diese Studien wurden im 1. Jahrhundert nach der Auswanderung nur sporadisch von den Prophetengefährten und ihren Nachfolgern betrieben, weil das Kalifat das Sammeln und Aufzeichnen von Überlieferungen verboten hatte. Einige wenige befassten sich mit der Rechtswissenschaft, Qur´an-Exegese und der Überlieferungswissenschaft. Die meisten aber lernten sie lediglich auswendig und überlieferten sie der Nachwelt.
Zu Beginn des 2. Jahrhunderts wurde das Verbot aufgehoben[1], und die Muslime schrieben die Prophetenüberlieferung nieder, beschäftigten sich regelmäßig mit dem Studium anderer Wissenschaften und verfassten Abhandlungen und Bücher darüber. Und so entstanden die Überlieferungswissenschaft, die Überlieferungs- und Überliefererkritik, die Methodenlehre der Rechtswissenschaft, die Gesetzeswissenschaft und die Theologie. Die Philosophie wurde zwar erst aus der griechischen in die arabische Sprache übersetzt und in die islamische Kulturwelt eingeführt, wo sie sogar eine Zeitlang in ihrem griechischen Zuschnitt fortbestand, doch sie passte sich nach einiger Zeit sowohl in der Form als auch im Inhalt der Denkweise der islamischen Umwelt so an, dass in der gegenwärtigen islamischen Philosophie keine theologische Fragestellung existiert, die samt ihrer Begründung nicht im Qur´an und in der Überlieferung zu finden wäre.
Diese Feststellung trifft auf die arabische Philologie ebenfalls zu, denn die Beschäftigung mit der Morphologie, Syntax, Rhetorik, Stilkunde, Lexikographie, Wortbildung und Linguistik betraf zwar die arabische Sprache, wurde jedoch zweifelsohne durch jenes göttliche Meisterwerk motiviert, das mit seiner klaren Sprache und seinem schönen Stil eine enorme Anziehungskraft auf die Muslime ausübte, die daher die Notwendigkeit verspürten, allgemeine Regeln in der arabischen Sprache aufzustellen, um die Struktur der qur´anischen Worte und Sätze sowie ihre stilistisch rhetorischen Besonderheiten zu erkennen. Auf diese Weise entstanden die Morphologie, Syntax und Lexikographie und die drei rhetorischen Disziplinen.
Es ist überliefert worden, dass Ibn Abbas, ein Qur´an-Exeget aus der Reihe der Prophetengefährten, die Bedeutung der qur´anischen Verse mit Beispielen aus der arabischen Dichtung zu erklären versuchte. Er empfahl, arabische Gedichte zu sammeln und sie auswendig zu lernen. Durch solche Bemühungen wurden die arabische Prosa und Poesie aufgezeichnet, bis der bekannte schiitische Gelehrte Halil ibn Ahmad Basri das Lexikon “Kitab al-Ain“ verfasste und die Prosodie zur Erkennung des arabischen Versmaßes begründete. Andere Gelehrte führten seine Werke fort.
Die islamische Geschichtsschreibung entwickelte sich aus der Überlieferungswissenschaft. Sie begann mit der Aufzeichnung der Geschichten der Propheten (a.) und der Imame sowie der Biographie von Muhammad (s.), dann kam die frühislamische Geschichte hinzu und entwickelte sich allmählich zu einer Geschichtsschreibung über andere Gegenden der Welt.
Einige Historiker wie Tabari[2], Masudi[3], Yaqubi[4] und Waqidi[5] seien hier genannt. Die Beschäftigung der Muslime mit Naturwissenschaften, Mathematik usw. zuerst durch Übernahme fremden Gedankengutes auf dem Wege der Übersetzungen und später durch selbständige Arbeiten geht ebenfalls auf jene kulturelle Motivation zurück, die durch den Qur´an hervorgerufen wurde.
Auf Anordnung der Kalifen, deren Amtssitz sich auf arabischem Gebiet befand, wurden zuerst wissenschaftliche Bücher verschiedener Fachgebiete aus der griechischen, syrischen und indischen Sprache in die arabische Sprache übersetzt und später auch anderen muslimischen Völkern zugänglich gemacht. Daraus entwickelten sich ständig Forschung und Lehre systematisch und in größerem Stil fort.
Die islamische Zivilisation, die sich bereits kurz nach der Auswanderung und dem Ableben des Propheten (s.) in weiten Teilen der damals bewohnten Erde ausbreitete und heute über 600 Millionen Menschen[6] im Namen des Islam zusammenhält, wurde eindeutig durch den Qur´an hervorgebracht. Ein derartiger Wandel in einem Kettenglied der Weltereignisse wirkt fort und beeinflusst die weitere Entwicklung. Daher ist der Qur´an eine der Ursachen des heutigen kulturellen Wandels und Fortschritts.
Um diese Feststellung gebührend zu untermauern, bedarf es natürlich einer ausführlicheren Untersuchung, die im Rahmen dieses kurz gehaltenen Beitrages nicht möglich ist.
[1] Von der Zeit des ersten Kalifen Abu Bakr kurz nach dem Ableben des Propheten (s.) bis zu der Zeit des Kalifen der Umayyaden Umar ibn Abd al-Aziz (herrschte 99-101 nach der Auswanderung) war es Sunniten mehr oder weniger verboten, außer-qur´anische Aussagen des Propheten Muhammad (a.) aufzuzeichnen. Schiiten haben sich aber an jenes Verbot nicht gehalten und haben mit Erlaubnis ihrer Imame – darunter auch der 4. Kalif Imam Ali (a.) – stets die Aussagen gesammelt und notiert.
[2] Abu Dschafar Muhammad Ibn Dscharir ibn Yazid al-Tabari (839-922 n.Chr.), der als Tabari (der aus Tabaristan) bekannt ist, war ein bedeutender persisch-islamischer Historiker und Gelehrter der Sunniten.
[3] Abu al-Hasan Ali ibn al-Husain (895-957 n.Chr.), bekannt als al-Masudi war ein bedeutender muslimischer Philosoph, Geograph und Historiker.
[4] Abu al-Abbas Ahmad ibn Ishaq ibn Dschafar ibn Wahab ibn Wadih (bis 897 n.Chr.), bekannt als al-Yaqubi, war ein muslimischer Historiker und Geograph.
[5] Mohammed ibn Umar ibn Waqid (747-823), bekannt als al-Waqidi, war ein muslimischer Historiker.
[6] Die Zahl stammt von der Zeit der Abfassung der Schrift. Bei Herausgabe dieser Ausgabe 2009 sind es bereits 1,7 Milliarden
source : الشیعه