Wie schon erwähnt, war der Qur´anische Text sowohl während des ersten als auch des zweiten Unternehmens bereits unter den Muslimen weit verbreitet, welche sich besonderer Mühe unterzogen, um ihn zu erhalten. Darüber hinaus waren eine große Anzahl von Prophetengefährten und ihre Nachfolger nur mit dem Vortragen des Qur´an beschäftigt. Und weil das Sammeln des Textes in einem Mushaf in aller Öffentlichkeit vonstatten ging, akzeptierten alle das ihnen vorgelegte Exemplar und fertigten davon weitere Abschriften an.
Als zur Zeit des dritten Kalifen Uthman (während des zweiten Unternehmens) beabsichtigt wurde, den Vers „Und diejenigen, die Gold und Silber horten“ (9:34) ohne „und“ einzuleiten, wurde dies verhindert. Der Prophetengefährte Abi ibn Ka'b zog sein Schwert und drohte, gegen die Sammler zu kämpfen, wenn dieses Wort weggelassen wird, bis man schließlich einwilligte, den Vers mit „und“ aufzunehmen.[1]
Der zweite Kalif rezitierte eines Tages den Satz „und diejenigen, die ihnen auf ordentliche Weise gefolgt sind“ (9:100) ohne „und“ und wurde deswegen von den anderen so angefeindet, dass er sich korrigieren musste.
Imam Ali (a.) hatte zwar selber den Qur´an in chronologischer Ordnung gesammelt, seine Aufzeichnungen den Muslimen gezeigt, die sie akzeptierten, und war an keinem der Unternehmen beteiligt, akzeptierte aber trotzdem die offizielle Sammlung und stellte sie niemals — auch nicht während seiner Amtszeit als Kalif — in Frage. Ebenfalls stellten die Imame aus dem Hause des Propheten, die ja seine Nachfolger sind, niemals — auch nicht unter ihren vertrauten Parteigängern — die Gültigkeit des Mushaf in Frage. Im Gegenteil, sie beriefen sich in ihren Äußerungen stets darauf und wiesen ihre Parteigänger an, der Lesungsart der Leute zu folgen.[2]
Man kann die Behauptung wagen, dass Imam Alis (a.) stillschweigende Hinnahme der offiziellen Qur´an-Sammlung, obwohl sie sich in der Anordnung von seiner eigenen Sammlung unterschied, wohl darin begründet war, dass die Mitglieder der Familie des Propheten den Qur´an ohnehin durch den Qur´an auslegten und dass bei diesem Verfahren die Reihenfolge der Verse und Suren sowie der Ort ihrer Offenbarung in Bezug auf die hohen Intentionen des Qur´an irrelevant sind, denn bei der Auslegung eines Verses werden alle Verse des Qur´an berücksichtigt. Die allgemeinen Intentionen und Themen einer universalen und ewigen Schrift dürften von den Faktoren der Zeit und des Ortes sowie den Ereignissen der Offenbarungszeit nicht beeinflusst werden.
Die Kenntnisse dieser Detailfragen sind insofern von Nutzen, als geklärt wird, wie die islamisch-religiösen Erkenntnisse, Gebote und Geschichten zur Zeit der Offenbarung entstanden sind und wie der Ruf zum Islam während der dreiundzwanzigjährigen Missionstätigkeit des Propheten (s.) die Menschen erreicht hat. Doch die islamische Einheit – wie sie schon immer von den Imamen der Familie des Propheten angestrebt wurde – ist wichtiger als dieser Nebenvorteil.
[1] Durr al-Manthur, Teil 3, Seite 232
[2] Wafi, Band 5, Seite 273, Kapitel über die Verschiedenheiten im Qur´an
source : الشیعه